Neulich am Abend: Ich sitze entspannt auf dem Sofa, als ich plötzlich ein merkwürdiges scharrendes Geräusch höre. Zunächst mag dies für ein altes Haus nicht ungewöhnlich erscheinen. Nicht selten kommt es vor, dass es irgendwo knackt oder quietscht. Auch wenn der Regen auf die metallenen Fensterbänke prasselt und der Wind ums Haus pfeift, klingt das manchmal bedrohlich. Bis heute haben wir nicht nachgesehen, ob hinter unserem Wohnzimmer, an der fensterlosen Wand, ein Baum steht. Von Zeit zu Zeit, wenn es dort wieder einmal kratzt und scharrt, scherzen wir, dass wir der Ursache erst zu unserem Auszug auf den Grund gehen werden. Die Beunruhigung, sollten wir an dieser Stelle keinen Baum vorfinden, wäre sonst doch zu groß.
An jenem Abend aber ist es ein anderes Scharren. Ich brauche einen Moment, um das Geräusch zu verorten. Als mir plötzlich eine vage Vorstellung kommt, denke ich: „Das wird doch wohl nicht etwa …“ Keine zwei Minuten später bestätigt sich mein Verdacht. Ich positioniere mich in der Dunkelheit an der Balkontür. Und da sehe ich es: Von oben landet Schnee auf unserem Balkon. Geschneit hat es viel in der letzten Woche. Auch den Nachbar, der die Wohnung über uns bewohnt, hat dies nicht verschont. Und so schippt er nun fröhlich das, was ihn zu stören scheint, nach unten. Das Scharren also, das ich vernommen hatte, war seine Schaufel, die er über den Boden schob. „Ein Hoch auf Nachbarn“, sage ich da nur. Doch beginnen wir von vorn.
Schwieriges Miteinander
Gut eineinhalb Jahre ist es her, dass es mich zum zweiten Mal nach Dresden zog. Gemessen daran, dass die Deutschen durchschnittlich 4,5 Mal in ihrem Leben umziehen, kann ich mich mit fünf Umzügen in 25 Jahren wohl schon jetzt zu den Spitzenreitern zählen. Wobei mich die doch recht niedrige offizielle Zahl zugegebenermaßen überrascht hat … Mein letzter Umzug also brachte mich nach einem rund zweijährigen Intermezzo erneut in die sächsische Landeshauptstadt, genauer gesagt in das Hinterhaus eines denkmalgeschützten Altbaus in der Friedrichstadt.
Beim Anbau des besagten Hinterhauses wurde das Gebäude auch mit einem Fahrstuhl ausgestattet. Genau dieser führte bei unserem Einzug zum ersten Kontakt mit unseren neuen Nachbarn. Man muss dazu sagen, dass wir uns nie darüber beschwert haben, dass die Kosten für den Aufzug gleichmäßig auf alle Mieter umgelegt werden, obwohl wir – im ersten Stock lebend – nur äußerst selten davon Gebrauch machen. Einer dieser raren Anlässe war nun unser Einzug. Jeder kann sich vorstellen, dass es auch bei nur einem Stockwerk eine Erleichterung ist, nicht alle Möbel und Kisten nach oben tragen zu müssen. Frau Ungestüm hingegen verlieh ihrer Erregung darüber, ein einziges Mal die Treppe benutzen zu müssen, bei unserer ersten Begegnung vollen Ausdruck. Das nannten wir einen herzlichen Empfang.
Insgesamt gibt es in unserem Haus sechszehn Mietparteien. Wie überall, wo Menschen aufeinandertreffen, birgt das reichlich Konfliktpotenzial. Doch nicht immer sind es konträre Meinungen oder Rücksichtslosigkeit, die zu Zwischenfällen im Miteinander führen. Manchmal ist es auch schlichte Einfalt. Erneut muss ich hierzu auf den schon recht betagten Nachbar über uns zurückkommen. Denn der Schnee vor ein paar Tagen war nicht das Erste, was seinen Balkon verließ.
Es begab sich an einem heißen Sommertag. Tatsächlich war es die Hitze, die letztendlich Schlimmeres verhinderte. Gerade war ich dem drohenden Sonnenbrand nach drinnen entflohen, als es draußen einen lauten Knall gab. Ich saß an meinem Schreibtisch, mit direktem Blick auf unseren Balkon und das, was dort soeben gelandet war. Auch Herr Arglos hatte sich vor der Sonne schützen wollen. Doch ein Windstoß genügte, um seinen Sonnenschirm eine Etage abwärts zu fegen. Zu der selbstgebauten Befestigung, mit der der Schirm wohl an der Balkonbrüstung verankert war, muss ich mich hier nicht äußern … Es genügt zu sagen, dass diese in einem derart desolaten Zustand war, dass es uns nicht verwunderte, als Herr Arglos davon berichtete, dass dies nun schon zum zweiten Mal passiert sei.
Ich wünschte, ich könnte an dieser Stelle mit der Aufzählung dessen, was uns von oben ereilte, enden. Doch ich fahre fort. Gleicher Schauplatz, ein Jahr später. Inzwischen haben wir uns für unseren Balkon eine Sitzecke aus Paletten gebaut. Nach langer Suche sind dafür auch die entsprechenden Polster gefunden. (Kleiner Handwerker-Tipp am Rande, da man hinterher ja immer schlauer ist: Die Paletten nicht einfach irgendwie zersägen, ohne sich vorher zu informieren, ob es auch Kissen in dieser Größe gibt.) Nun ist es so, dass Herr Arglos ein gewisses Laster pflegt. Schon häufiger hatten wir Spuren dessen bei uns gefunden, der Höhepunkt aber kündigte sich an diesem Tag mit aufsteigenden Rauchschwaden an. Bis wir jedoch registriert hatten, dass diese von unserem Balkon kamen, war in einem der neuen Polster bereits ein riesiges Brandloch. Wenigstens zeigte Herr Arglos den Anstand, uns die Summe ohne Diskussionen zu ersetzen.
Ein Gefühl von Zuhause
Keineswegs soll aber der Eindruck entstehen, wir wären hinsichtlich unserer Nachbarschaft vollkommen gebeutelt. Denn eigentlich haben wir es ziemlich gut getroffen. Gemeinsame Grillabende im Sommer gehören mittlerweile ebenso dazu wie geselliges Glühweintrinken am Lagerfeuer im Winter. Auch wenn sich nicht alle Hausbewohner von den Einladungen zu diesen Treffen angesprochen fühlen, hat sich so doch ein kleiner Kreis gefunden, der nichts mit der in Großstädten oft vorherrschenden Anonymität gemein hat. Die Namen zu den Gesichtern zu kennen, denen man im Hausflur begegnet, gibt einem doch ebenso ein Gefühl von Zuhause wie ein kurzer Plausch mit dem Postboten, der nicht nur gehetzt seine Pakete abwirft.
Ja, Nachbarn können nerven – so wie alle anderen Menschen auch. Aber es gibt auch die Sorte, die dir am Wochenende ein Stück Kuchen vor die Wohnungstür stellt. Oder spätabends noch leise an die Tür klopft, um dir ein Paket zu bringen, das der Lieferdienst einfach kommentarlos im Hausflur abgestellt hat. Gerade im letzten Jahr hat sich vielleicht hier und da gezeigt, dass gute Nachbarschaft unverzichtbar ist. Und womöglich können wir diese zum Tag der Nachbarn am 28. Mai auch wieder gemeinsam feiern.
Text: Marie-Luise Unteutsch
Foto: Amac Garbe