Russische Wirklichkeit in Hellerau

Wenn jemand an Russland denkt, tauchen fast immer zwei Wörter auf: Putin und Wodka. Das Land bietet aber etwas mehr. Um Russland zu verstehen, gibt es die Möglichkeit, bis 25. Januar das Festival „Karussell – Zeitgenössische Positionen russischer Kunst“ in Hellerau zu besuchen.

Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste zeigt zeitgenössische russische Positionen des Theaters, der Performing Arts und der Musik, indem ungefähr 150 Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturakteur*innen aus Russland „Neue Dramatik“ über Musiktheater, Performances, Dokumentartheater, Installationen, Filme, Vorträge, Gespräche und andere Vermittlungsformate präsentieren. Das Festival bietet russisch-deutschen Austausch zu künstlerischen und gesellschaftspolitischen Themen sowie gegenseitiges Kennenlernen zwischen russischen und deutschen Künstler*innen sowie dem Publikum.

Warum gerade Russland? „Unsere Intendantin Carena Schlewitt interessiert sich schon seit Jahren für Osteuropa“, erzählt Henriette Roth, Leitung Kommunikation in Hellerau. „Sie ist in der Gegend herumgereist und hat das politische Handeln beobachtet. Sie wollte Künstler*innen die Möglichkeit geben, ihre Stücke in Deutschland zu zeigen, sich auszutauschen und ein bisschen Öffentlichkeit zu erhalten. Es gab 2018 schon das polnische Festival „Polski Transfer“ und es war ein Wunsch der Stadt Dresden, dass Hellerau den Blick auf Osteuropa erweitert“, sagt Henriette Roth. Fremdsprachenkenntnisse sind aber nicht notwendig, weil alles, was in Russisch gesprochen wird, deutsch untertitelt oder übersetzt wird. Auch Vorträge, wenn sie in Russisch gehalten werden, werden übersetzt. Hellerau war nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1990 übrigens sowjetische Kaserne. Auch so kommt der Bezug zur russischen Kultur zustande.

Mit der vielfach ausgezeichneten, multimedialen Oper „Prosa“ von Vladimir Rannev wurde das Festival am 10. Januar eröffnet. Diese Oper besteht aus zwei Erzählungen, Yury Mamleevs „Der Bräutigam“ und Anton Tschechovs „Die Steppe“. Wanja aus „Der Bräutigam“ und Jegoruschka aus „Die Steppe“ verschmelzen zu einem Protagonisten. „Einerseits geht es um eine Familiengeschichte, andererseits ist es die Geschichte über einen Autounfall und den Tod eines Mädchens. Diese Geschichte beleuchtet die psychologische und soziologische Grundlage des russischen Lebens“, sagt Vladimir Rannev, Regisseur und Komponist. „Die Idee der Oper ist: Damit man die böse und harte Welt der Menschen erobert, muss man selbst noch böser und hartnäckiger werden. Der Protagonist versteht, wie er die Menschen manipuliert“, fügt er hinzu. „Das Stanislawski-Elektroteatr hat es riskiert, mit uns zu arbeiten. Wir haben selbst nicht erwartet, dass die Oper solchen Erfolg haben wird“, erzählen Rannev und seine Ausstatterin, Marina Alexeeva. Boris Yukhananov, Chef des Elektroteatrs, wurde schon vorher auf Hans-Thies Lehmann aufmerksam – ein deutscher Theatertheoretiker, der das Buch „Postdramatisches Theater“ schrieb. Die Besonderheit des Stanislawski-Elektroteatrs besteht darin, dass sich das Theater nicht nur mit dem Text beschäftigt, sondern auch verschiedene Gesten und Körpersprache nutzt.

Zum ersten Mal in Deutschland wird am 18. Januar das Stück „Kinder der Sonne“ von Timofey Kuljabin präsentiert. Der Regisseur hat Maxim Gorkis Drama genommen und ans Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre verlegt. Damals gab es einen wichtigen Umbruch in der russischen Geschichte, weil Boris Jelzin das Amt des Präsidenten an Wladimir Putin übergeben hat. Die Figuren des Stücks wurden in Russland geboren, leben aber in Kalifornien im russischen Expat-Milieu. „Wir haben junge Künstler und Künstlerinnen, aber auch gestandene Künstler und Künstlerinnen der freien Szene dabei, die nicht am Staatstheater engagiert sind, sondern in freien Gruppen, freien Ensembles. Elf Stücke werden zum ersten Mal in Deutschland zu sehen sein“, fasst Henriette Roth zusammen.

Auch Musik gibt es zu hören, zum Beispiel SHORTPARIS. Das ist eine Band, die Elektronik mit Post-Punk, Noise und Chanson verschmelzt. Während des Festivals gibt es auch eine grafische Reportage von Victoria Lomasko. Sie hat das Prinzip entwickelt, indem sie in Russland bei Gericht gezeichnet hat. Lomasko wird in Hellerau in einem Salon eine Woche lang von 14 bis 22 Uhr malen und das Festival dokumentieren. Ihre grafische Reportage anzuschauen ist kostenfrei.

Das Festival bietet auch die Möglichkeit, sich über das deutsch-russische Verhältnis zu informieren. Es gibt ein Theaterforum, bei dem sich Künstler*innen aus Russland und Deutschland begegnen, um sich über ihre Arbeit und ihr Leben auszutauschen. Das Festival zeigt auch zwei Filme, darunter „Leto“ von Regisseur Kirill Serebrennikov. Es ist eine Erzählung über zwei russische Rock-Legenden aus Leningrad, Wiktor Robertowitsch Zoi und Mike Naumenko, sowie den grauen Sowjetalltag.

Bis 9. Februar gibt es die Installation „21 – Erinnerung ans Erwachsenwerden“ von Mats Staub, einem  Künstler aus der Schweiz, anzuschauen. Warum 21? Mats Staub hat das Projekt in Deutschland begonnen mit vier alten Damen und Herren und ihren Erlebnissen, als sie 21 waren. „Für mich persönlich war das 21. Lebensjahr viel, viel wichtiger als das 18. Aus dem Rückblick habe ich bemerkt, das ist ein Jahr, wo eine Weiche gestellt wird, und ich habe gedacht, wenn wir über das 18. Lebensjahr reden, wird es bei vielen ähnlich sein. Alle wohnen wahrscheinlich noch zu Hause. Aber dann hatte ich die Idee, ich nehme das 21. Jahr, denn das Thema Erwachsenwerden hat mich damals wirklich beschäftigt“, erzählt Mats Staub.

Es wurden Interviews mit vielen Menschen geführt. Für seine Installation in Hellerau wählte der Künstler im Besonderen fünf mit Menschen aus, die heute in Dresden leben, mit 21 aber in Russland. Das ist der Bezug zum Festival. „Man erlebt sehr viele Zeitgeschichten, auf unglaubliche, individuelle Art. Wenn man sich jetzt als Studierende für Geschichte interessiert, dann hat man hier wunderbares Material“, sagt Staub. „Es ist wichtig, dass man keinen Eintritt bezahlen muss, denn man wäre viel zu gestresst von den Materialien. Man kann gar nicht so viel auf einmal aufnehmen. Das Format des Festivals, wo man mehrmals kommt, ist ideal für solche Art Projekt“, fügt er hinzu. Jedes Video dauert zwischen 8 und 15 Minuten. Die Leute reden nicht. Sie hören sich selbst zu. Es wurde zuerst ein Audio aufgenommen und drei Monate später hat Staub die Menschen noch mal getroffen. Die Installation startet an allen Veranstaltungstagen eine Stunde vor Programmbeginn.

Am 25. Januar wird das Festival mit dem Theaterstück „Chapajev und Pustota“ von Regisseur Maxim Didenko beendet. Es handelt sich um eine Inszenierung nach dem Roman von Wiktor Pelewin. Johannes Kirsten, einer der Kurator*innen, erzählt, warum das Theaterstück von Didenko ausgewählt wurde. „Weil das eine spannende Inszenierung ist. Weil es einen Bogenschlag durch die gesamte Sowjetzeit und die Nach-Sowjet-Wirklichkeit beschreibt.“

Für Studenten*innen gibt es die Möglichkeit, die Hellerau Card zu kaufen. Sie kostet ermäßigt 15 Euro. Damit können Studierende ein ganzes Jahr lang das ganze Programm zum halben Preis anschauen. Das Festival endet am 25. Januar mit der „Karussell Festivalabschluss-Party“ um 23.30 Uhr im Dalcroze-Saal.

Text: Anna Shtutina

Zum Foto: Mats Staub, Vladimir Rannev mit seiner Tochter Sonja sowie Marina Alexeeva (v. l.) vor dem Festspielhaus in Hellerau.

Foto: Amac Garbe

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