Filmtipp des Monats: Die Wache

Halbwegs pünktlich zum Start der neuen Kinowoche gibt es auf Campusrauschen eine kleine Premiere: einen Kinotipp vom hier mitunter selbst empfohlenen Kino im Kasten.

Zu den kleinen Annehmlichkeiten, ein Kino zu betreiben, gehört das Privileg, ab und zu bei einer Dresdner Pressevorstellung hereingelassen zu werden, wo es vor einigen Wochen den neuen Film von Quentin Dupieux zu schauen gab: „Die Wache“ („Au Poste!“, Frankreich 2018). Dass man weit über ein Jahr für eine Kinoveröffentlichung brauchte, mag am leicht verqueren Ruf des Regisseurs gelegen haben, den man vor allem von „Rubber“ (Frankreich 2010) kennt. Denn das ist eine Art absurder Meta-Horrorfilm über einen mordenden Reifen. Oder aber als MR. OIZO, dem mit dem Song „Flat Beat“ Ende der 90er ein Riesenhit gelang, in dem die auch von ihm kreierte gelbe und im Beat mitwippende Handpuppe Flat Eric auftrat.

Sein neuer Film wandelt dabei ganz auf den alten Spuren einer unentwegten Reihung von allerlei Absurditäten und Trivialitäten, inszeniert als saukomische Farce. Und vorweggestellt sei: Egal ob man mit Dupieux schon mal in Berührung kam oder nicht, die knackigen 73 Minuten Lauflänge sollte eigentlich jeder durchstehen können. Das Grundgerüst ist schnell beschrieben: Ein Mann wird des Mordes verdächtigt und soll nun verhört werden. Die grobe und schon häufig benutzte Struktur einer zunächst kammerartig inszenierten Verhörsituation wird auch hier erst einmal in Stellung gebracht, zusehends merkt man aber: Dieses Vehikel lenkt der Wahnwitz. Kein psychologisch aufrüttelnder Thriller über Schuld und Unschuld entfaltet sich, eher wird der auf seine Unschuld drängende Verhörte Luis Fugain (Grégoire Ludig) von einer kafkaesken Situation in die nächste geschleudert. Das geht beim verschrobenen Personal der Wache los, z. B. dem behördentypisch einfach nicht aus dem Knick kommenden zweiten Hauptdarsteller Commissaire Buron (Benoît Poelvoorde), einem Raucher, dem die nikotingeschwängerten Schwaden durch ein Loch im Oberkörper entgleiten, und seinem Bürogenossen mit einem seltsam zugewachsenen Auge. Der Film weidet sich oft lustvoll an solchen körperlichen Absonderlichkeiten.

Und am großen Hunger des Befragten. Es ist ja eine Binsenweisheit, dass die Wartezeit bei der Polizei eng verknüpft ist mit dem Anzeigebedürfnis der Bürger. Doch der Diensthabende hat rein gar nichts zu tun und will Fugain eigentlich nur ganz gemächlich die Nacht über verhören, hat dabei weder große Eile, noch einen besonders ausgeprägten polizeilichen Fürsorgewillen. Letzterer hat sich schnell im Anbieten eines widerlichen Schokoriegel-Restes erschöpft, den er aus dem Schreibtisch hervorholt. So setzt sich das immer fort, vom Mord will keiner so recht wissen.

Dupieux wählt sein Setting sehr weise. Wir befinden uns durchweg in einer Art 70er-Jahre-Frankreich. Wohl gewählt, immerhin gibt es eine Menge französischer Genreklassiker aus jenen Jahren und man wäre nicht erstaunt, wenn sich plötzlich ein skeptisch grinsender Jean-Paul Belmondo an den Verhörtisch dazusetzte. Die zeittypischen brutalistischen Gebäude, Interieurs und passenden Accessoires verleihen der Bürotristesse einigen Charme. Diese gekonnte Wiederherholung spricht auch Bände über die momentan grassierende Ausstattungsakribie (man denke u. a. an „Suspiria“), die wahnsinnig gut in den Kram passt. Dupieux‘ Kamera bleibt dabei zwar relativ konventionell, aber es gibt auch fast nur Dialogszenen. Die Schnitt-Gegenschnitt-Sequenzen sind jedoch recht flott geschnitten und haben einen guten Rhythmus. Ergänzt wird das durch kleinere Fahrten durch die erwähnten, nett anzuschauenden Räumlichkeiten. Dupieux kann dabei auch als klassischer Auteur gelten. Er hatte fast alles in der Hand: Drehbuch, Kamera und eben Regie. Vom Spiel her ist vor allem Benoît Poelvoorde zu loben, dessen Darstellung eines sich weniger mit dem Verhörten, als mit der Schreibmaschine im Gefecht befindenden Hauptkommissars wirklich gut ins Herz der Beamtenklischees sticht und wunderbar umgesetzt wurde.

Nachdem irgendwann alles Knusprige vom bloßen Polizeistations-Setting abgeknabbert ist, startet der Film voll durch und entledigt sich seiner Kammerspielenge durch einen Sprung in die Erinnerungswelt Fugains, da er schließlich doch auf Geheiß des Kommissars vom Abend des Mordes erzählen soll. Ein Bügeleisen ist da im Spiel, ein Toter freilich auch und eine misstrauische Nachbarin, die so aussieht wie einer der Beamten auf der Station. Man braucht nicht weiter erzählen, wir bleiben im gewohnten Panoptikum Dupieux‘. Erinnerungssequenzen haben einen wuchtigen filmhistorischen Ballast. Denken wir an Kurosawas „Rashomon“: ein Film über eine Vergewaltigung und einen Mord im feudalen Japan. Mehrere Leute erzählen die gleiche Begebenheit aus ihrer Perspektive und man erkennt recht schnell, das keine der Schilderungen die Wahrheit pachtet. Damit war die Postmoderne im Film eingeläutet – Realität ist Konstruktion, Erinnerungen sind nicht verifizierbar. Oder – von der anderen Seite her gedacht – es gibt Filme über Verbrechen, deren Täter gar nicht erst gezeigt werden. Da will der Regisseur uns mitunter durch diebische Flucht vor der Aufklärungsverantwortung zum Denken anregen. Die preußischen „Children of Corn“ in Michael Hanekes „Das weiße Band“ sind da ein gutes Beispiel: Gewalterziehung schafft neue Gewalt, angedeutet nur, aber den fernen Schimmer zukünftiger Gewaltexzesse tragen sie schon als Keim in sich, jene Kinder von vor 1914, die nach 1933 das Sagen haben werden.

Dupieux‘ Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Raubkopierbarkeit schließt hier nun an unsere verhipsterte und bärtige Gegenwart an: Die Erinnerungen erzählen einen gar nichts weiter als Blödsinn oder sind kuriose Reflexionen, letztlich wieder Spielmasse für die auch hier fortgesetzten Einfälle seines Skurrilität-Overkills. Unter der zunächst lauter wirkenden Prämisse, uns die sogenannte Mordnacht zu schildern, erzählt der Beschuldigte von seinen Gängen aus der nächtlichen Wohnung. Diese werden immer zahlreicher und auch immer absurder. Zunehmend fallen dann gerade erst kennengelernte Menschen der Wache in Fugains Erinnerungen, bis er versunken im eigenen Gedächtnispalast aktiv als Protagonist mit den Bekannten aus der Polizeistation in Kontakt tritt, um beispielsweise Fragen folgender Güte zu klären: Wenn man in der eigenen Erinnerung mit jemandem spricht, den man eigentlich erst nach der Erinnerung kennengelernt hat, aber in der Erinnerung von dieser Person gefragt wird, wann man sich das erste Mal getroffen hat, sagt man dann das passiert in der Zukunft oder in der Vergangenheit?

Wem solcher viertelphilosophischer Quatsch Spaß macht, der wird seine helle Freude haben. Der Film ist in seiner zweiten Hälfte nämlich reich an ganz leicht metaphysischen Kautzigkeiten, die sich mit dem großen Topos Erinnerungen herumschlagen, aber natürlich nie die Qualität ernsthafter Auseinandersetzungen mit dem Thema erreichen. Auch lässt Dupieux den Film regelrecht Pirouetten drehen, um diese Gags in Stellung zu bringen, oder uns auf halbem Wege mit einem antiklimaktischen Rutsch ins Triviale auf andere Weise wieder zu belustigen. Dabei ist ein großes Vorbild unleugbar: Luis Buñuel, und hier vor allem sein Geniestreich „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“. Ein treibendes Zentralmotiv ist gleich direkt herausgeklaut: der Hunger. Dort (also bei Buñuel) als Motor für verschiedene ineinander verschachtelte Träume, hier einer der Taktgeber für den geschundenen Verhörten, auf den er immer wieder zurückkommt. Auch der Schlusspunkt in Dupieux‘ Film existiert eins zu eins im Filmkosmos von Buñuels sich über das Bürgertum lustig machenden Großwerk.

Doch den zu verraten, das wäre jetzt natürlich unanständig. Man muss, um nachzuprüfen, was ich meine, beide kennen oder gucken. Dupieux‘ Film ist zwar mindestens zwei intellektuelle Etagen unter Buñuel. Doch er kommt ziemlich leichtfüßig, launig und mit 73 Minuten sehr knackig daher. Das kann man locker mal runtergucken. Also ganz kurz gesagt: Wem ein bierernst dirigierender, nackter Dirigent vor einem Orchester im Freien ausgedehnt auf eine Drei-Minuten-Sequenz auch nur ganz vielleicht ein Lächeln abringen kann, dem sei der Film empfohlen. Wer hier sofort nur mit den Augen rollt, der lässt das Billet am Schalter lieber ungekauft und guckt nur den erwähnten Film von Buñuel, egal ob er ihn kennt oder nicht.

Text: Martin Prade
… ist seit zweieinhalb Jahren Mitglied beim Kino im Kasten, einer Hochschulgruppe der TU Dresden, die ein richtiges Programmkino betreibt. Mit allem Drum und Dran: Filmvorführungen, Getränkeverkauf, Kartenabreißen, Filmbuchungen, Öffentlichkeitsarbeit und, und, und. Und einem eigenen Blog! Das Beste daran: Jeder kann kommen und mitmachen.

Foto: 2019 Little Dream Entertainment

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