Wenn jemand mich fragt, wo ich zu Weihnachten bin, antworte ich ganz kurz: „Ich feiere kein Weihnachten.“ Mir werden dann oft Fragen gestellt, ob ich eine andere Religion habe oder ob ich im Januar Weihnachten feiere, weil russisch-orthodoxe Christen nach dem alten julianischen Kalender am 7. Januar dieses Fest begehen. Viele europäische Länder feiern nach dem neuen Kalender am 25. Dezember Weihnachten. Der Unterschied zwischen dem alten julianischen und dem neuen gregorianischen Kalender ergibt 13 Tage. Deshalb feiern die Christen in Russland am 7. Januar.
Nach der Oktoberrevolution 1917 wurden religiöse Feiertage wie Weihnachten verboten. In der UdSSR war der 7. Januar deshalb ein ganz normaler Arbeitstag. Weil meine Eltern in der UdSSR geboren worden sind, haben sie nie Weihnachten gefeiert. Das Weihnachtsfest zu feiern war nur etwas für religiöse Menschen. Obwohl das Ausüben von Religionen verboten war, existierten Kirchen und andere Gebäude fürs Gebet, zum Beispiel Synagogen, trotzdem. In die Kirche zu gehen und aus Neugier die Architektur anzuschauen war nicht verboten. Das Beten jedoch schon. Meine Mama erzählte mir einmal, dass Studenten exmatrikuliert werden konnten, wenn sie beim Beten erwischt wurden. Man schämte sich einfach, religiös zu sein.
Nachdem die UdSSR aufgelöst worden war, wurde der 7. Januar ein Feiertag. Trotz dessen und des fehlenden Verbotes feierten meine Eltern nie Weihnachten. Wieso sollten sie ein christliches Fest begehen, wenn sie nicht gläubig sind? Ich habe immer das neue Jahr mit ihnen gefeiert. Am 31. Dezember schmückten wir vormittags einen Tannenbaum. Danach klebten wir aus Papier selbst gemachte Schneeflocken an die Fenster. Am Abend verbrachten ich und meine Familie die letzten Stunden des alten Jahres, indem wir viel aßen, tranken und diskutierten, was gut oder schlecht in dem Jahr war. Dann gab es um Mitternacht im Fernsehen eine Zusammenfassung des Jahres durch den Präsidenten. Danach konnten wir endlich russische Neujahrsfilme anschauen. Am 1. Januar fuhren meine Eltern und ich zu meiner Oma und meinem Opa. Wir aßen zusammen Abendbrot. Dann fuhren wir wieder nach Hause.
Für viele Menschen in Europa ist Weihnachten ein soziales Phänomen geworden. Das christliche Fest feiern nicht nur religiöse Menschen, sondern auch Atheisten. Es ist einfach eine Möglichkeit geworden, die ganze Familie einmal pro Jahr wiederzusehen. Ich feiere aber kein Weihnachten, weil ich es einfach nicht feiere.
Text: Anna Shtutina
Foto: Amac Garbe