Journalismus für alle

Ohne den Twitter-Account Straßengezwitscher wäre Berichterstattung über rechte Demos in Sachsen arm dran. Doch anstatt sich zurückzulehnen, haben seine Gründer ein neues Projekt gestartet.

Johannes Filous ist ganz schön bescheiden. Der 26-Jährige, medizinischer Fachangestellter und Journalist, betrachtet seinen Blaubeerkuchen und sagt: „Straßengezwitscher hat sich organisch und kontinuierlich entwickelt.“ Kann man so sagen. Man könnte aber auch sagen: Das Twitter-Projekt, das Filous und sein Mitstreiter Alexej Hock im März 2015 gegründet haben, war sehr schnell sehr erfolgreich. Oder wie sonst ist es zu bezeichnen, dass sie nur gut ein Jahr nach dem Start, im Juni 2016, den Preis für Zivilcourage erhielten? Dass Journalisten von BBC bis BR sich von Filous an Montagabenden „an die Hand nehmen lassen“, wie er sagt, um die Szenerie erklärt zu bekommen? Dass ihre Berichterstattung über rechte Demos und Angriffe auf Flüchtlingsheime mittlerweile 3 Millionen Impressionen im Monat zählt? Eben.

Filous und Hock sind Lückenfüller, im besten Sinne des Wortes. Sie füllen die Lücke zwischen „Straße und Artikel“, wie Filous sagt. „Da passiert viel Unfug, es werden viele Gerüchte aufgebauscht.“ Und im Text steht dann: „Bei Pegida alles Nazis.“ Nazis. Johannes Filous würde sich wahrscheinlich die Haare raufen ob dieses Wortes: viel zu ungenau, viel zu schwammig. Ihre Berichterstattung über rechte Demos und Angriffe auf Flüchtlingsheime, sie soll präzise sein und fair, verlässlich und informativ. In nur 140 Zeichen? „Das ist ja gerade das Ding: kurz und knackig. Straßengezwitscher ist eine Nachrichtenagentur 2.0.“

Kurz ist dann aber doch nur der Tweet. Denn einfach mal hingehen, bisschen Demo gucken und fertig ist der Tweet – so läuft das nicht. Wenn sie von einer Demo erfahren, beginnt die Recherchearbeit: Anfrage beim Landratsamt, ob die Demo überhaupt angemeldet ist, und wenn ja, von wem. Social-Media-Kanäle werden durchforstet, die rechte Gruppen zur Mobilisierung nutzen. Und dann schauen, wer von den mittlerweile 30 Reportern aus Redaktionen in Dresden, Chemnitz und Leipzig Zeit hat. Am besten gleich zwei, denn vor Ort gilt das Vier-Augen-Prinzip. Damit aus einem rufenden Mann nicht ein brüllender Nazi wird. „Die Situationen sind oft sehr hitzig“, erklärt Filou. Er findet: Es ist diese „Tweetiquette“, dank derer sich Straßengezwitscher von anderen Accounts abhebt. Die eben nicht immer nüchtern und wertungsfrei berichten. „Wir haben es geschafft, einen Bürgerjournalismus zu betreiben, der hohen Qualitätsansprüchen genügt“, sagt Filous. „Das möchten wir als Blaupause zur Verfügung stellen.“

Im Oktober war es soweit: Alexej Hock und Johannes Filous hoben ihr neues Projekt aus der Taufe. Dessen Name könnte passender nicht sein: Crowdgezwitscher. Kein Twitter-Account, sondern eine Plattform, auf der Tweets mittels des Hashtags #crowdgezwitscher gebündelt werden. Dazu eine Übersicht rechter Facebookseiten wie „Nein zum Heim Klingenberg“ oder „Hainichen bleibt deutsch“. Jeder, der einen Internetzugriff hat, kann sich auf der Seite über rechte Aktionen informieren – egal, ob Social Media-User oder nicht.

Niedrigschwelligkeit ist aber nicht nur auf Seiten der Leser Kernpunkt des Konzepts. Immer wieder betont Filous, dass Crowdgezwitscher viel offener gestaltet sei als Straßengezwitscher. „Wir werben aktiv um Leute, bei Crowdgezwitscher mitzumachen.“ Kontaktformular, kurze Vorstellung, Einführung in die Tweetiquette, los gehts. Freiraum ja, Gleichgültigkeit nein: Auch weiterhin werden die Beiträge auf Herz und Nieren geprüft: Schließlich wolle man nicht „irgendwas“ veröffentlichen. „Wenn etwas unseren Anforderungen nicht genügt, dann binden wir das nicht ein.“ Die Möglichkeit des Vetos – für Filous ist sie unabdingbar. Bisher sei es aber noch nicht vorgekommen, dass er einen Beitrag verhindern musste. Allerdings wird die aktive Berichterstattung bisher von gerade einmal fünf Accounts übernommen.

Tatsächlich: Die Sachsenkarte, die einen auf der Website begrüßt, könnte auf den ersten Blick eine von vielen sein. Nur wenige kleine Fähnchen zeigen rechte Kundgebungen an. „Seit Anfang 2016 hat die Zahl der Kundgebungen stark abgenommen“, berichtet Filous. Aus zwischenzeitlich 20 bis 30 Kundgebungen die Woche seien mittlerweile höchstens fünf geworden. Doch das heißt nicht, dass ihre Arbeit überflüssig wird. Im Gegenteil: Ginge es nach Filous, würden noch viel mehr Menschen Crowdgezwitscher mit Inhalt füllen. „Bürgerjournalismus funktioniert nur, wenn wir viele sind.“ Doch was heißt das – funktionieren? Es heißt wohl, dass Hock und Filous ihr Ziel erreichen. „Es sollen mehr Menschen dort hinschauen, wo sie vorher weggeschaut haben.“ Ein Ziel, das trivial klingt. Doch das, wo Polarisierung und Ignoranz Konjunktur haben, vor allem eines ist: wichtig.

Text: Luise Martha Anter

Foto: Amac Garbe

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