Die nationalen Grenzen der Corona-Solidarität

Wir erleben gerade krasse Zeiten. Das Virus ist beängstigend, die Ausnahmezustände belastend und die noch nicht abzusehenden Folgen erschreckend. Trotzdem müssen wir die Zeiten nicht nur erleben – passiv, angststarr, abwartend –, wir können sie auch aktiv gestalten. Aus moralischen und epidemiologischen Gründen müssen wir das sogar. Während die Auswirkungen des Corona-Virus innerhalb Deutschlands bisher einigermaßen überschaubar bleiben und restriktive Politik und soziale Isolation durch selbst organisierte, ehrenamtliche Nachbarschaftshilfen und Solidarität so gut es geht aufgefangen werden, passiert an den deutschen Grenzen, an den europäischen Grenzen und innerhalb der Geflüchtetencamps Schreckliches.

Die Horrorstories aus den italienischen Krankenhäusern, wo über das Leben von Menschen entschieden werden muss, sind in der deutschen Politik schon längst Realität, doch der gesellschaftliche Aufschrei ist kaum vorhanden. In Italien ist der Mangel im kaputtgesparten Gesundheitssektor enorm. Es fehlt an medizinischem Personal und Beatmungsgeräten, sodass es immer wieder zu Situationen komme, dass Ärzt*innen entscheiden müssen, wer lebenswichtige Maßnahmen bekommt und wer nicht. Solche Zustände werden in deutschen Krankenhäusern vermutlich nicht eintreten, aber Deutschland hat längst aufgrund ganz anderer Kriterien entschieden, wem in der Krise Hilfe zukommen soll und wer nicht in die hoch gepredigte Solidarität eingeschlossen wird.

Statt die Pandemie als globales Problem zu begreifen, in der transnationale Zusammenarbeit von offensichtlich großer Bedeutung ist, kehren die Staaten zu einer nationalistischen Abschottungspolitik zurück. Wer Hilfe und Solidarität in Zeiten der Krise erfährt, wird an der Nationalität festgemacht. Schlecht, wenn man keinem stabilen Staat angehört oder vor diesem gerade flüchten muss und sowieso schon aus Existenz- oder lebensbedrohlichen Gründen Hilfe sucht.

Die deutschen Grenzen sind dicht: Nachdem zunächst die aktive humanitäre Aufnahme von Geflüchteten aus dem Ausland ausgesetzt wurde, werden nun an den deutschen Grenzen auch alle Menschen, die dort ankommen und Asyl suchen, abgewiesen. „Gesundheitliche Risiken von außen“ müssten „konsequent reduziert werden“, wie Armin Schuster, Sprecher der CDU, gegenüber dem Focus äußerte. Eine solche Betrachtungsweise in Bezug auf Menschen erinnert an AfD-Rhetorik, die daraus folgenden Grenzschließungen umso mehr. Bleibt nur noch, dass man – wie von Frauke Petry gewünscht – an den Grenzen „notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen [kann]“. Aber auch das ist schon passiert. So ist Anfang März der 22-jährige Mohammad al-Arab an der türkisch-griechischen Grenze durch einen Schuss gestorben. Darüber gab es mediale Berichterstattung, aber angesichts der da noch drohenden gesundheitlichen Krise für die eigene Nation war dieser Übertritt einer roten Linie auch schnell wieder vergessen.

Doch dies ist noch nicht das Ende der Verletzung grundlegender Menschenrechte, des Europarechts und der Genfer Flüchtlingskonvention – von der wir gerade alle Zeuge werden. Die Ausmaße der europäischen Abschottung betreffen auch die innereuropäischen Geflüchtetenlager – vor allem auf den griechischen Inseln, wie in dem Lager Moria auf Lesbos. Wo sowieso schon 20.000 Menschen in einem Lager leben, welches für 3.000 gebaut wurde, werden angesichts der Corona-Pandemie die Hilfsmaßnahmen immer weiter eingeschränkt, während die dort lebenden Menschen die Insel nicht mehr verlassen dürfen. Nachdem die Türkei Anfang März die Grenzen zu Griechenland geöffnet hatte, hatten viele Menschen versucht, über Griechenland nach Europa zu kommen. Dies wollte die griechische Küstenwache, aber auch rechtsradikale Gruppen mit extremer Gewalt verhindern. In einer solchen Situation an der Grenze, wo bewaffnete griechische Grenzschutzeinheiten und bewaffnete Zivilist*innen patrouillierten, kam es dann auch zu dem tödlichen Schuss auf Mohammad al-Arab. Infolge dieser unberechenbaren Zustände mussten sich viele Hilfsorganisationen von den griechischen Inseln zurückziehen, da die Sicherheit der eigenen Mitarbeitenden nicht mehr gewährleistet werden konnte.

In diese Situation hinein kamen nun das Corona-Virus und die nationale Abschottung. 20.000 Menschen sind auf Lesbos gefangen und unter desolaten Zuständen sich selbst überlassen. Als am 16. März ein Feuer im Camp ausbrach, brauchte es mehrere Stunden, bis dies gelöscht werden konnte und die Feuerwehr überhaupt zu dem Brand vorgedrungen war. Infolgedessen starb ein 6-jähriges Kind. Grund war die Enge. Während in Deutschland alle in ihren eigenen Wohnungen bleiben sollen, schlafen auf Lesbos über 20 Menschen in 20-m2-Räumen – und das sind die noch nicht so überfüllten. Wie soll man so physische Distanz wahren? Wie soll man sich ohne fließendes Wasser die Hände waschen? Wie sollen mit einem zusammengebrochenen Gesundheitssystem und ohne Beatmungsgeräte Menschen gerettet werden?

Um es zynisch zu beantworten: Den europäischen Staaten geht es vorrangig nicht darum, Menschenleben zu retten. Deutsche, Französ*innen, Griech*innen, Ungar*innen: Europäer*innen sollen zuerst geschützt werden. Abgesehen von einem politischen Rückschritt ist das der falsche Ansatz – bis das Virus bekämpft ist, viele Menschen immun sind oder es einen Impfstoff gibt, kann es noch viele Monate dauern. Die Grenzen können nicht so lange zu sein – allein schon aus wirtschaftlichen Gründen. Warum zählen dann nicht jetzt schon humanistische Gründe? Europa ist gerade der Hauptherd des Virus – wieso machen sich die Länder dann Sorgen, dass es weiter eingeschleppt wird? Natürlich sollten alle Menschen so wenig wie möglich reisen, um eine Ausbreitung zu verringern, aber was ändert es, ob der Supermarkt drei Straßen weiter in Frankreich oder in Deutschland steht?

Das Virus macht keinen Unterschied zwischen den Menschen, doch durch strukturelle Ungleichheit sind manche gefährdeter als andere. Verantwortungsvolle Maßnahmen müssen dies berücksichtigen und gerade die Benachteiligten der Gesellschaft schützen. Gerade jetzt zeigen sich die Unterschiede extremer zwischen denen, die ohne Existenzängste zu Hause Streamingdienste in Anspruch nehmen können, und denen, die akut in ihrer Existenz bedroht sind oder gar kein Zuhause haben. Bei Maßnahmen gegen das Virus müssen insbesondere die Menschen beachtetet werden, die auch am stärksten durch das Virus und die Auswirkungen betroffen sein werden. Wenn Corona bekämpft werden soll, müssen alle Menschen global mitgedacht werden.

Dies bedeutet auch, dass die Flüchtlingslager umgehend evakuiert werden müssen. Bricht auf Lesbos das Virus aus, muss mit sehr vielen Toten gerechnet werden. Doch nicht nur für die Menschen in den griechischen Lagern muss der globale Norden Verantwortung übernehmen, auch in den lybischen sind unter ähnlich desolaten Zuständen schon die ersten Menschen an COVID-19 erkrankt. Genauso darf auch vor den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf deutsche Massenunterkünfte für Geflüchtete nicht die Augen verschlossen werden. In Thüringen wurden zuletzt aufgrund eines positiven Falls 553 Menschen auf engstem Raum unter Quarantäne gestellt und dürfen das Gelände der Unterkunft nicht mehr verlassen.

#LeaveNoOneBehind heißt eine internationale Kampagne, die sich für die Rechte der geflüchteten Menschen einsetzt. Am 29. März gab es in diesem Rahmen eine große Seebrücke-Online-Demonstration, an der über 6.000 Menschen teilnahmen. Auf YouTube wurden verschiedene Musik- und Redebeiträge gestreamt und gemeinsam auf Social Media verschiedene Institutionen angelaufen. Dort wurden von vielen Teilnehmer*innen klare Botschaften hinterlassen: Die Geflüchtetenlager müssen sofort evakuiert werden! Es gibt in Europa genug Platz – die Menschen müssen umgehend hier aufgenommen werden, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern!

Diese Forderungen müssen noch lauter werden und mehr Aufmerksamkeit bekommen – und wir alle können dafür aktiv werden. „Social Distancing“ sollte eigentlich besser „Physical Distancing“ heißen, denn durch das Internet, durch Social Media müssen wir uns noch längst nicht sozial isolieren. Und so heißt es auch, neue Aktions- und Ausdrucksformen zu finden und auszuprobieren, um der Passivität zu entkommen. Denn die Zustände an den deutschen und europäischen Grenzen sind untragbar. Solidarität darf eben nicht an den Nationalgrenzen enden!

Text: WHAT

Foto: Amac Garbe

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