Nora Fingscheidt gelingt mit ihrem Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ der deutsche Film des Jahres. Eine Entdeckung ist Hauptdarstellerin Helena Zengel.
Letztlich wollen wir nur eins: unseren Eltern gefallen. Von ihnen umarmt und geliebt werden. Besonders wenn wir auch physisch noch ein Kind sind. Klappt das nicht, gibt es verschiedene Strategien, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Benni schreit – nach Liebe. Sie schlägt. Wirft mit Dingen um sich. „Kraftzwerg“ wird sie im Film liebevoll genannt. Doch Benni ist ein „Systemsprenger“. So nennt das System, das solche Problemkinder auffangen soll, jene Kinder und Jugendliche, die es nicht aufzufangen vermag. Natürlich nur inoffiziell.
Benni ist eine Kreation der Drehbuchautorin und Regisseurin Nora Fingscheidt. Jahrelang hat sie recherchiert, u. a. in einer Wohngruppe gelebt. In einer Schule für Erziehungshilfe, einer Inobhutnahmestelle und in der Kinderpsychiatrie hat sie mitgearbeitet. Hinzu kamen Gespräche mit Mitarbeiter*innen von Institutionen und Ämtern, mit Psycholog*innen, mit ehemals betroffenen Kindern und Jugendlichen. Benni freilich ist eine Kulmination. Und gleichzeitig eine Ausnahme. Denn die meisten Systemsprenger sind männlich und älter als 13 Jahre. Benni ist neun und heißt eigentlich Bernadette, aber sie hasst diesen Namen. Besonders hasst sie es aber, wenn man ihr ins Gesicht fasst. Dann rastet sie völlig aus. Der Grund ist ein frühkindliches Trauma. Ihr sind als Baby Windeln ins Gesicht gedrückt worden.
Bennis Mutter hat noch zwei jüngere Kinder und ist mit der unbändigen Energie der großen Schwester vollkommen überfordert. Zudem hat sie wechselnde Freunde, die es anscheinend für eine angemessene Erziehungsmethode halten, eine Neunjährige in den Schrank zu sperren. Dann kommt die Polizei. Benni hat da längst eine Odyssee hinter sich: Pflegemutter, Wohngruppe, Psychiatrie, Inobhutnahme. Niemand will sie noch aufnehmen. Der einzige Lichtblick ist Frau Bafané vom Jugendamt – und Micha. Der Anti-Gewalt-Trainer arbeitet normalerweise mit aggressiven Jugendlichen und nimmt Benni mit in den Wald. Die Devise: zurück zum Ursprung, zurück zur Natur. Das Problem: Benni sucht so sehr nach Halt und Zuneigung, dass sie sich an jeden klammert, der sie liebevoll behandelt. Und auch Micha verliert die Distanz.
Nora Fingscheidt hat das für ihren Debütspielfilm völlig schlüssig aufgeschrieben und in knalligen, aber klaren Bildern und Tönen umgesetzt. Zu keiner Sekunde zweifelt man am Verhalten der Protagonist*innen oder ihren Gefühlen. Besonders die überragende Helena Zengel mimt die neunjährige Benni mit einer Authentizität, dass man es mit der Angst zu tun bekommt. Dieses Talent war schon zwei Jahre zuvor in Mascha Schilinskis „Die Tochter“ zu sehen. Dabei sind ihre Schreie nie aufgesetzt oder görenhaft, stets schwingt der innere Schmerz und fehlende Halt mit. Und wenn die Gefühle überhandnehmen, dann wechseln die Bilder zu schemenhaften Traumfetzen, zu verschwommenen Erinnerungen oder in letzter Konsequenz zu schrillem Pink.
Aber auch die Erwachsenen um Benni herum sind bestens besetzt. Während Albrecht Schuch den äußerlich harten, aber im Innern zarten Kumpeltyp gibt, verzweifelt Frau Bafané alias Gabriela Maria Schmeide an und mit Benni. Nora Fingscheidt ist das Mitgefühl in ihren Figuren anzumerken, die Mitarbeiter*innen des Systems werden zu keiner Zeit verteufelt. Menschen agieren hier mit Menschen – und scheitern aneinander. Fingscheidt sei früher selbst ein unbändiges Kind voller Energie gewesen, das jedoch in den richtigen Kreisen aufgewachsen sei. Bennis Mutter aber, die Lisa Hagmeister wunderbar zerbrechlich gibt, braucht selbst dringend eine Mutter, die sie hält. Vor Herausforderungen jedenfalls läuft sie weg.
21 Preise hat Fingscheidts Spielfilmdebüt bisher abgesahnt, eine Oscarnominierung für den besten ausländischen Film bahnt sich momentan an. Nora Fingscheidt und Helena Zengel haben es längst nach Hollywood geschafft. Das mittlerweile elfjährige Schauspieltalent dreht gerade an der Verfilmung von Paulette Jiles‘ Roman „News of the World“ – mit niemand geringerem als Tom Hanks an ihrer Seite. Dass ihr und Fingscheidt, die sich ebenfalls über den Großen Teich macht, ein ebenso großer Wurf gelingt wie mit „Systemsprenger“, das ist uns allen zu wünschen. Denn dieser Film ist sowohl sinnlich als auch intellektuell ein absoluter Höchstgenuss.
Nora Fingscheidts zweistündiger Dokumentarfilm „Ohne diese Welt“ über Mennoniten in Argentinien, der als Abschlussfilm ihres Regiestudiums an der Filmakademie Baden-Württemberg entstand und den Max-Ophüls-Preis sowie den First Steps Award gewann, läuft am 22. September (18 Uhr) vermutlich einmalig im Programmkino Ost.
Text: Nadine Faust
Foto: Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures
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