Wer in den vergangenen Jahren über das Neustadt Art Festival schlenderte, beim Fête da la Musique lauschte oder im Wulberts oder ehemaligen v-cake einen Kaffee trank, wird Paula Peterssen bereits gehört haben. Seit 2013 ist sie als Musikerin aktiv – erst allein, seit 2018 mit Band. Nach der EP „Heb die Kiesel auf“ und einem Live-Mitschnitt folgt nun mit „Kleinstadtherz“ das zweite große Werk auf CD (mit drei Bonussongs), als Download und Stream.
Wenn man Paula Peterssen sieht, im karierten Flanell-Hemd, die braunen Locken in die Stirn fallend, die Brille auf der Nase und das Lächeln im Gesicht, dann kann man sich lebhaft vorstellen, wie sie durch Freiberg, Görlitz oder Chemnitz schlendert, sich an einen Brunnen stellt und Straßenmusik macht. Ein Kleinstadt-Mensch mit einem Kleinstadtherz.
Tief verwurzelt
Aufgewachsen ist Paula Peterssen in Görlitz, wo sie mit vier Jahren ihre ersten musikalischen Erfahrungen bei der Früherziehung im Kindergarten sammelte. Paula erzählt: „Da war ein älterer Herr mit Gitarre, der einmal wöchentlich in die Kita kam und mit uns Lieder gesungen hat. Und ich fand das total cool und habe gesagt: ‚Ich will Gitarre lernen!‘ Dieser ältere Herr wurden dann später mein Gitarrenlehrer, mit dem ich immer noch in Kontakt bin. Der war so eine Art Mentor für mich, im Leben und in der Musik.“
Ab der zweiten Klasse nahm sie Gitarrenunterricht, mit Zupfen und klassischen Liedern. Doch das wurde zu langweilig und so folgte der Wechsel zur E-Gitarre. Und erste eigene Texte. „Ich habe angefangen, mir selbst Akkorde beizubringen, und mit zwölf Jahren meine ersten Songs geschrieben. Seitdem habe ich nicht mehr damit aufgehört“, schildert sie.
Für Paula Peterssen liegt der Fokus nicht auf dem Instrument, sondern auf den Worten. „Ich lerne Gitarre, damit ich das ausdrücken kann, was ich will. Die Musik sollte sich bei mir um den Text herum aufbauen und ihn hervorheben. Der Text ist mein Ding, ich mag es, Worte hin- und herzuschieben“, erklärt sie.
Sprachkünstlerin in sieben Liedern
Das merkt man auch auf „Kleinstadtherz“. Die Songs sind zwischen 2:56 und 5:03 Minuten lang und mit Schlagzeug, E- sowie Akustikgitarre sparsam instrumentalisiert. Nur im Titeltrack kommt am Ende ein Trompetensolo zum Einsatz. Dennoch ist jeder Song so eingängig, dass man ihn leicht wiedererkennt. Die Texte sind metaphorisch, lebensnah und die Lyrics fließen. So reimt sich im Song „Kleinstadtherz“ die „Hauptverkehrsader“ auf „will eigentlich gar nichts“. Im ersten Lied „Türrahmen“ sinniert sie: „Du machst es dir bequem/zwischen Bleiben und Geh’n“. Der Türrahmen als Bild für eine Entscheidung, die nicht getroffen werden kann. Ähnlich das besagte Kleinstadtherz, in dem es um den Abschied von der Kindheit und dem Hinausziehen in die Welt geht. „Zu meinem Vorteil“ setzt sich mit Egoismus und Privilegien auseinander und wirkt wie ein Bekenntnis. Zu beiden Werken und „2012“ gibt es auch Musikvideos auf YouTube zu bestaunen.
Ein Song entsteht bei Paula Peterssen erst langsam, dann schneller. Sie sammelt Notizen in ihrem Handy, manchmal über Monate, bis sie das Gefühl hat, dass es raus muss. Sie erklärt: „Dann ist ein Song in zwei Stunden geschrieben. Meistens verändere ich an dem Text nichts mehr im Nachgang, weil es für mich eine Art Momentaufnahme ist. Das ist das Gefühl, in dem ich mich zwei Stunden befinde, und wenn ich mich ausgekotzt habe, dann ist es weg von mir. Der Song steht dann für sich, ist größer als ich und dann habe ich kein Mitspracherecht mehr.“
Berührungsängste oder Bedenken, zu tief in sich zu graben, hat Paula Peterssen nicht. Sie führt aus: „Wenn der Song nichts mit dir macht oder er dir nicht peinlich ist, dann hast du eigentlich nicht dein Innerstes nach außen gekehrt. Das ist ja das Gute an der Kunst, dass du dich nicht rechtfertigen musst; dass du es einfach mal rauslassen kannst. Wenn es dir selbst nicht nahegeht, wie soll es dann anderen nahegehen?“ Die Reaktionen des Publikums geben ihr recht. Oft kommt sie nach dem Konzert mit Zuhörer:innen ins Gespräch, erfährt persönliche Geschichten, fröhliche und traurige. Die Menschen identifizieren sich mit ihren Texten.
Von der Schublade auf die Bühne
Die Künstlerin glücklich gemacht hat das Record-Release-Konzert Ende September und die anschließende Tour im Oktober. Diese führte sie durch Annaberg-Buchholz, Bernburg, Berlin und Leipzig. Nach eineinhalb Jahren Arbeit an der EP ein Ventil, das geöffnet werden musste. Paula Peterssen erzählt: „Ich hatte solche Angst, dass das Release-Konzert ausfällt. Wir haben solange daran getüftelt und ich dachte: ‚Wenn ich jetzt nicht meine Release-Party, meine Tour bekomme, dann ist das für mich persönlich ein Desaster.‘“
Für die Musikerin war es die zweite Tour. Die erste unternahm sie 2018 noch allein. Danach kamen Bassistin Judith Beschow und Drummer Simon Stellmacher hinzu. Seither spielt Paula Peterssen manchmal Konzerte allein, manchmal mit den anderen Musiker:innen. Die aktuelle Tour bestritten die drei nun gemeinsam. Mit viel positiver Energie, aber auch manchem Konflikt. „Wir konnten uns zum Teil richtig auf den Sack gehen, ich hätte sie manchmal am liebsten stehengelassen“, erläutert Paula und lacht. „Wir hatten auch total schöne Momente und das hat uns noch mal zusammengeschweißt. Wir hatte die Chance, diese Konzertsituationen miteinander zu üben. Wirklich am Stück zu spielen und am nächsten Tag zu besprechen, was cool war und was wir ändern müssen. Da waren wir nach vier Konzerten einfach drin. Wir hätten zwei Wochen weiterspielen können.“
Den Weg zur Band fasst Paula Peterssen so zusammen: „Wir haben uns gefunden.“ Die Künstlerin kennt den Sänger der Band ALICE ROGER, in der Judith Beschow ebenfalls Bass spielt. Dieser fragte sie eines Tages, ob sie beim Umzug der Musikerin helfen könne. Paula erzählt: „Ich habe beim Einzug ihre Kisten mitgeschleppt, obwohl ich sie nicht kannte.“ Einige Konzertbesuche später fragte die eine die andere, ob sie auch bei ihr Bass spielen wolle.
Auch der Kontakt zu Simon Stellmacher entstand über ALICE ROGER. Allerdings: „Ihn kannte ich tatsächlich schon, er ist auch aus Görlitz. Man kennt sich eben, wenn man aus Görlitz kommt“, berichtet sie und lacht. Ende 2018 wurde geprobt, seitdem spielen sie zusammen, wenn es terminlich passt. Mit der Konstellation verändert sich auch die Situation auf der Bühne. Das Tempo wandelt sich und alle drei müssen zusammen spielen. Paula Peterssen konkretisiert: „Mit Band geht es nach vorne, es wird relativ rockig und die Leute wippen mehr mit. Wenn ich solo spiele, dann wird es ruhiger, textlastiger. Manchmal spiele ich auch andere Songs. Aber natürlich macht es viel mehr Spaß, zusammen auf der Bühne zu stehen. Wenn ich weiß, dass Judith an dieser Stelle am Bass viel zu tun hat und wir gucken uns an und ich signalisiere ihr: ‚Ich hoffe, du schaffst es.‘“
Pause mit Füllung
Das Release-Konzert war für die Musikerin auch deswegen wichtig, weil sie im Februar 2021 eine bewusste Auszeit genommen hatte. Zuerst arbeitete sie ehrenamtlich bei verschiedenen Projekten in Deutschland, u. a. half sie beim Ausbau eines Gutshauses in Mecklenburg-Vorpommern und bekochte für Mission Lifeline die Werftcrew, die am Schiff Rise Above gebaut hat. Danach ging es nach Irland. Paula Peterssen schwärmt: „Ich mag die irische Kultur, die Musik, dieses Pub-Ding ist irgendwie meins. Letztlich stand der Plan seit vier Jahren. Ich hatte allen davon erzählt. Um nicht unglaubwürdig zu werden, habe ich gedacht, dass ich das jetzt einfach mache.“ Die Band verpasste somit den konzertreichen Sommer 2021, konnte sich mit dem Release-Konzert aber zurückmelden.
Paula Peterssen betreibt die Musik nebenberuflich und überwiegend als Ein-Frau-Projekt. Darin sieht sie Vor- und Nachteile. Sie beschreibt das so: „Im Machen, wenn ich Konzerte spiele, fällt mir das sehr leicht. Für mich ist das auch eine Flucht aus dem Alltag. Gleichzeitig ziehe ich meine Inspiration daraus. Ich habe deswegen nicht vor, hauptberuflich Musikerin zu werden, weil ich mir dann sehr viele Inspirationsmöglichkeiten wegnehmen würde. Ich glaube auch, dass das sehr romantisiert wird, sein Geld mit Musik zu verdienen. Weil man dann muss – aktuell darf ich.“ Besonders der Verwaltungsaufwand wie Booking, das Ausfüllen der GEMA-Listen bei Konzerten und die Steuererklärung nimmt ihr viel Zeit. Unterstützt wird sie von „Oh my music!“, einem Musik-Verlag aus Dresden, der die GEMA-Listen bei der Verwertungsgesellschaft einreicht und dafür einen Teil der Tantiemen bekommt.
Freundschaften fürs Leben
Ihr Studium fasst die Musikerin kurz zusammen: „Es war megageil.“ Sie hat von 2010 bis 2013 in Chemnitz Pädagogik studiert und sich überwiegend mit Erwachsenenbildung beschäftigt. Für Paula war die Stadt das ideale Umfeld. Sie beschreibt: „Der Vorteil war, dass das Studierendenleben in Chemnitz bezahlbar war. Auf dem Campus gab es damals vier oder fünf Studierendenclubs. Und jeder hatte an einem anderen Tag geöffnet. Und wenn du im Studierendenclub warst, dann wusstest du, dass alle hier waren oder zuhause. Du hattest nicht diese ‚Fear of missing out‘. Wir haben viele Hauspartys gemacht. Da muss man sich natürlich zusammenfinden, damit etwas passiert. Was dazu geführt hat, dass wir sehr enge Verbindungen aufgebaut haben.“
Die Studierendenzeit war für Paula Peterssen auch deswegen so besonders, weil sie das erste Mal auf eigenen Beinen stand. Sie sinniert: „Diese Zeit hatte etwas von einem ‚magischen Anfang‘. Die erste WG, eine neue Stadt, viele neue Freund:innen, den Alltag selbst strukturieren, selbst entscheiden, was gut oder schlecht für mich ist. So eine Zeit bekommt man nicht mehr zurück. Ein bisschen beschreibt mein Song ‚2012‘ dieses Gefühl. Der Mix aus Selbstbestimmung und ‚Es ist nicht alles so bierernst.‘ war für mich wohl das Schönste am Studieren.“
Text: Vivian Herzog
Foto: Amac Garbe
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