Brust raus, Ego rein!

Wer mich das erste Mal sieht, dem fällt vieles auf – dass ich braune Haare habe, meistens blaue Jeans und eine Brille trage. Und dass dort, wo sich makellose Rundungen abzeichnen sollten, zwei Halbkugeln mit zwei winzigen Punkten zu sehen sind. Denn seit zwei Jahren trage ich BHs nur noch, wenn ich Lust dazu habe. Für manche in meinem Umfeld irritierend – positiv wie negativ.

Wie es dazu kam

Als ich meine Entscheidung traf, war die Auseinandersetzung mit Weiblichkeit und ihren gesellschaftlichen Anforderungen auf Social Media gerade im Gange. Im Mittelpunkt stand dabei neben der Frage, ob man als Frau die Anti-Baby-Pille nehmen sollte und ob Periodenblut okay ist, auch, ob Büstenhalter zwingend sind. Ich habe mir ein paar Videos angeguckt und dachte: „Warum eigentlich nicht?“

Ich habe mich in BHs nie eingeengt gefühlt, aber mich nervte die Suche nach dem richtigen Kleidungsstück. Mein Körper ist so gebaut, dass ich lange brauche, bis der Unterbrustumfang stimmt, ohne dass meine kleinen Erdnüsse zu locker in ihrer Schale sitzen. Außerdem geht die Klamottenindustrie davon aus, dass jede Frau mit kleinen Brüsten größere haben will. Ich finde Push-ups jedoch unnötig. Und wenn ich das Passende gefunden habe, dann zeichnet sich das Material unter dem T-Shirt ab. Das endlich aufzugeben, war ein Stück befreiend.

Zuerst probierte ich es mit Braletts, also  Exemplaren ohne geformtes Körbchen oder Bügel, die man im Rücken verschließt. Leider werden sie meist nur mit einem Gummi unter der Brust fixiert, sodass meine Halborangen oft unter dem Band durchrutschten. Und auch hier hatte ich das Problem, dass man den Stoff unter meiner Kleidung durchsah. Reliefs sind schön, aber nur auf Geburtstagskarten, nicht auf Klamotten.

Die ersten Monate

Also ging ich dazu über, komplett zu verzichten. Für mich war das anfangs schwer, obwohl ich hinter meiner Entscheidung stand. Meine Brüste veränderten sich – sie nahmen langsam ihre „natürliche“ Form an. Und ich spürte die Schwerkraft. Ich fühlte bei jedem Schritt, dass sie sich bewegten. Ich fühlte den Stoff, der über meine Haut rieb. An ersteres habe ich mich gewöhnt, aber es gibt heute noch Momente, in denen ich intensiv spüre, welches T-Shirt ich trage – besonders, wenn ich nervös bin. Ein Büstenhalter kann ein Schutz sein, vor zu vielen Eindrücken. Er gleicht an, was in der Realität unterschiedlich ist. Das loszulassen, daran musste ich mich gewöhnen.

Mein schlimmster Feind war aber ich selbst. Denn überall sah ich die Blicke – die gar nicht da waren. Obwohl ich wusste, dass man unter einem Unterhemd, einem Long-Shirt und einem dicken Pulli im Winter niemals erkennen würde, ob ich etwas trüge, hatte ich das Gefühl, als würde jeder sie anstarren. Als würde ich einen Raum betreten und hätte zwei Sirenen auf dem Kopf, die ständig schrien: „Sieh! Mich! An!“

Ich hatte Angst bewertet zu werden. Dass ich mich nicht ordentlich anziehen würde. Dass ich damit Signale senden würde. Dass ich etwas Privates nach außen trüge. Dass ich damit nur Aufmerksamkeit wollte. Es waren Dinge, die mir die Gesellschaft im Laufe meines Lebens eingetrichtert hat. Aber Meinungen kann man ja ändern.

Weiblichkeit braucht Zeit

Schon in der Schule waren „Brüste“ ein Thema. Wann wachsen sie, wie wachsen sie und wann ist man endlich reif genug, um einen BH zu tragen? In meinem Fall: gar nicht. Ich war spät dran und viel zu dünn. Warum tragen die coolen Mädchen ihr (gefaktes) C-Körbchen unter einem knappen Trägertop, während meine Kleinen noch im Bällebad liegen und warten, dass sie mal abgeholt werden? Für mich war das ziemlich frustrierend, aber da ich gern gelernt habe, habe ich mich damit abgelenkt. Eine wirkliche Bedeutung hatten Brüste für mich nie – man hatte sie und es ging das Gerücht um, dass Jungs sie mochten. Aber ich habe lange nicht verstanden warum.

Rückblickend betrachtet waren und sind (sexualisierte) Brüste überall. Auf Plakaten sieht man Dekolletees und in einschlägigen Männermagazinen werden sie in Szene gesetzt, auch wenn das Setting immer gleich ist. Das Spiel mit der Freizügigkeit, mit dem berühmten Konflikt aus Heiliger und Hure. Frauen dürfen sich bedeckt halten, bis sie, zum Wohle des Mannes, ihre Scham fallen lassen und nur für ihn zum Inbegriff der Sinnlichkeit werden. Und ich merke, dass ich darin verhaftet bin. Dass ich Brüste mit Erotik assoziiere, obwohl sie für mich ein Haufen Drüsengewebe und Fett sind. Und dass ich glaube, dass jeder Mann Brüste mag. Obwohl auch das ein Irrtum ist. Die meisten Männer, mit denen ich verkehrte, mochten, was ich sagte. Brüste sind etwas Verbotenes und dürfen nur dann gezeigt werden, wenn ein Fortpflanzungsakt in Sicht ist. Und sie müssen hübsch sein.

Manchmal macht es mir Spaß, genau damit zu spielen. Mich ein- und wieder auszupacken. Bei manchen Dates mit meinem Freund habe ich Lust, mir schöne Unterwäsche anzuziehen, von ihm bewundert zu werden und zu beobachten, wie er sich am Verschluss fast die Finger bricht, bis er, der stolze Ritter, die Hügel erklimmen und neben dem Fluss der Lust Excalibur wieder in den Felsen rammen darf.

Freiheit und ihre Grenzen

Es gibt aber Situationen, in denen ich bewusst einen BH trage. Zuerst natürlich, wenn ich mich an diesem Tag innerlich nackt fühle und Schutz brauche. Oder weil ich ein Kleid trage, das etwas mehr Form verlangt bzw. das Falten wirft, wenn oben nicht alles ausgefüllt wird. Weil’s einfach gut aussieht. Oder weil ich auch im Hochsommer im Büro angemessen gekleidet sein will. Wenn ich mit Menschen verabredet bin, die ich konservativ einschätze. Wenn ich einfach weiß, dass gerade andere Dinge wichtig sind als mein persönlicher Ausdruck.

Ich denke, es ist wichtig, dass man auch die Grenzen anderer Leute respektiert. Und wenn sich jemand nicht gut fühlt, wenn er verdeckte Nippel sieht, dann kann man darüber reden und einen Kompromiss aushandeln.

Außerdem verlangt ein Leben ohne klassischen BH, dass man ein bisschen plant. Ich war eines Abends spontan auf einem Konzert und hatte mir nur ein luftiges Top übergeworfen. Als ich später in ein semi-flirtives Gespräch mit einem Mann verwickelt war, konnte ich mich kaum konzentrieren, weil ich ständig Angst hatte, dass er sich unwohl fühlt, weil er gerade meine Brüste sehen könnte.

Schlussworte

Mittlerweile ist es mir meist egal, wer mich wie bewertet. Wenn ich im Sommer Lust auf einen kurzen Rock und ein knappes Top habe, dann mache ich das. Aber weder für Mann noch Frau, sondern weil ich gern den Wind auf meiner Haut spüre. Menschen dürfen sich darüber freuen, mögen ihre Meinung jedoch nur äußern, wenn sie gefragt werden. Ich ziehe mich nicht für einen Mann schön an, sondern weil ich die Situation so wertvoll finde. Wenn ich mich hübsch finde, bin ich entspannter und habe das Gefühl, dass ich ich sein kann.

Und ein bisschen schmeichelt es mir, wenn mich Leute für mutig halten, weil ich eine gesellschaftliche Grenze übertrete. Muss ja keiner wissen, dass ich manchmal ein ziemlicher Angsthase bin.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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