Ein bisschen weise und ein bisschen weiß

Erinnert Ihr Euch noch an die Werbung für das Yes-Törtchen, den viereckigen Kuchenriegel aus den 90er Jahren? In der die Protagonistin in einer Waldhütte sitzt, es gewittert und sie traurig ist, weil das Wetter so mies ist? Und in der dann der Angebetete mit dem Törtchen und einer Pyramiden-Kerze kommt und den Abend rettet? Als Kind der 90er, das von der Fernsehwerbung wohl ähnlichen Schaden davongetragen hat wie die „heutige Jugend“ von Instagram, habe ich daran geglaubt, dass jeder Kummer von einem Prinzen mit einem Schokoriegel geheilt wird. Und dass ich mit 30 eine blonde Frau mit perfekter Welle und rotem Lippenstift bin, die ein elegantes Kostüm trägt und in ihrer verantwortungsvollen Position als Chefsekretärin von allen geliebt wird, wenn sie aus einem Flugzeug steigt. Als kleines, unsicheres Kind dachte ich, dass ich mit Anfang 30 ausgewachsen bin. Glücklicherweise ein Irrtum.

Stillstehen ist nur ein Zustand

Manche Dinge werden sich wohl nie ändern. Zum Beispiel die Sache mit den Haaren: Blond werde ich nicht mehr, nur weiß. Und in Wellen halten meine Haare fünf Stunden. Danach chillen sie auf meinen Schultern und freuen sich. Außerdem liebe ich noch immer Limettensaft, mag aber nicht das glibberige Gefühl von Zitrusfrüchten in meinem Mund. Was sich auch nie ändert: Die Leidenschaft für schöne Gebäude, zu der mittlerweile noch eine Passion für Wein in Gläsern gekommen ist.

Allem voran: die Unsicherheit gegenüber Menschen. Nicht akzeptiert zu werden. Nach einer unbestimmten Anzahl von Minuspunkten wieder am Rand zu landen, wieder allein zu sein. Machtlos zu sein. Ich hatte nie eine Phase, in der ich rebelliert habe. In der ich dachte, wenn mich mein Umfeld ablehnt, würde ich es eben auch ablehnen.

Ich habe noch immer nicht entschlüsselt, was zu diesem Verhalten führt. Aber ich habe gelernt, besser damit umzugehen. Menschen brauchen meistens klare Schubladen, weil sie zu viele Möglichkeiten überfordern. Sie müssen Charakter-Typen erkennen und einordnen. Weil sie ja eigentlich nur zu einer sozialen Gruppe gehören wollen. Ich stelle sie mir dann wie einen blinkenden Computer aus den 70ern vor, der einen ganzen Raum einnimmt und irgendwann zu rauchen anfängt, weil er überhitzt.

Ich habe auch gemerkt, dass viele Menschen zur Höflichkeit erzogen wurden und das höher einstufen als ihre Bedürfnisse. Bis es knallt. Ich versuche das rechtzeitig zu erkennen und nachzufragen, wenn ich das Gefühl habe, eine Grenze zu überschreiten.

Und ich weiß, dass Beziehungen erblühen und absterben können. Dass man sich aufeinander zu entwickelt oder entfernt. Dass Menschen gehen dürfen, wenn die Beziehung für beide nicht glücklich ist.

Dimensionen der Wahrscheinlichkeit

Was ich auch gelernt habe: Dass es mehr Möglichkeiten gibt. Mehr als eine „Wahrheit“. Dass es auch für die Auslegung von Regeln mehrere Interpretationen gibt. Dass der obige Ansatz über Menschen vielleicht falsch ist. Dass es Leute gibt, die den Klimawandel für normal halten und solche, die ihn eindämmen. Menschen, die Gendern für die größte sprachliche Katastrophe des 21. Jahrhunderts halten, und solche, für die es wirklich etwas bewegt. Dass die Definitionen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ erweitert werden können, bis sie sich überschneiden. Dass Periodenblut in der Werbung blau sein muss und bitte nicht jede:r seine vollgeblutete Binde auf Instagram postet. All das kann man befürworten oder doof finden. Aber es wäre schön, wenn man dafür Argumente hat, die stichhaltiger sind als „Der Onkel einer Bekannten einer Freundin hat da mal was gehört.“.

Mich befreit das. Das Gefühl, dass so viele Zwischentöne existieren und ich mich nicht entscheiden muss. Ich darf eine breit gefächerte Meinung haben und ich darf sie auch ändern. Für mich fühlt sich das nicht festgefahren an, sondern eher, als hätte dieses Rädchen im Getriebe Bewegungsspielraum.

Kein Leben ohne Lieblingsmenschen

Mittlerweile habe ich außerdem Freund:innen gefunden und Leute, die mich ehrlich fragen, wie es mir geht. Für die ich ein wichtiger Teil des Lebens bin und die für mich wichtig sind. Für mich waren Freund:innen immer etwas, nach dem ich mich gesehnt habe. Ich musste aber erst lernen, was Freundschaft ausmacht, was ich geben sollte und was ich dafür einfordern kann. Z. B. dass ich mich regelmäßig melde, aber bei guten Freund:innen auch um Rat frage, wenn es mir nicht gutgeht. Und dass ich nicht ständig Angst haben muss, verlassen zu werden.

Zum Positiven verändert hat sich auch, dass die Vielseitigkeit, die mich als Kind gestört hat, gut ist. Ich konnte mich nie für etwas entscheiden, ich finde vieles toll. (Und wenn ich in einem Hotel frühstücke, muss ich fast alles probieren.) Heute weiß ich, dass es viele Leute gibt, denen das so geht, und dass es schön ist, ein Buch zu schreiben, Musik zu veröffentlichen, zu fotografieren und nebenbei ein Festival zu organisieren.

Überhaupt, die Kunst: Früher kam mir Dresden so klein vor, mittlerweile habe ich entdeckt, was sich hier alles bewegt und man selbst im Lockdown nicht das Gefühl hatte, allein zu sein.

Brief an das jüngere Selbst

Wenn ich meinem jüngeren Ich etwas mitgeben könnte, dann würde ich ihm wohl sagen: Das Streben nach diesem Idealbild der blonden Frau im Kostüm wird immer ein Teil von dir bleiben. Der Weg dorthin ist besser, tiefer und kreativer, als du denkst. Du wirst mehr als eine Sprache sprechen und mehr Menschen kennenlernen, als in deiner Straße wohnen. Du wirst immer geliebt werden. Du wirst auf deine Weise ziemlich cool werden. Und am Ende wirst du übrigens nicht mit dem Typen nach Hause gehen, der „Digimon“ für die beste Kinderserie mit Coming-of-Age-Elementen hält, sondern dem, der dich an Patamon erinnert. Happy Birthday, Kleines!

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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