Wahlplakate sind (k)eine Wissenschaft

Seit zehn Tagen ist Dresden ein bisschen bunter. Nicht wegen der Themenwoche zum Christopher Street Day, die aktuell stattfindet, sondern weil ab dem 36. Tag vor einer Wahl um 0 Uhr die Vorwahlzeit beginnt und damit Steh- und Hängeschilder antragsfrei platziert werden dürfen. So schreibt es die Satzung der Landeshauptstadt Dresden zur Verfahrensregelung über die Werbung für politische Zwecke auf öffentlichen Straßen während der Wahlkampfzeit vor. Sie regelt u. a., wo Plakate hängen dürfen und wo nicht, z. B. 20 m um Schulen, 50 m um Friedhöfe und in bestimmten Bereichen der Innenstadt. Außerdem müssen die Plakate eine Woche nach der Wahl verschwunden sein. Finanziert werden die Werke von Bundes- und Landesverbänden der Parteien, manche nutzen auch Patenschaften ihrer Unterstützer:innen dafür.

In Dresden wird in zwei Wahlkreisen gewählt – Wahlkreis 159 in den Stadtteilen Altstadt, Blasewitz, Leuben, Plauen und Prohlis und Wahlkreis 160 im Rest und einem Teil des Landkreises Bautzen. Musterstimmzettel für beide hat die Stadt auf ihrer Website zur Verfügung gestellt. Und genau wie zur vergangenen Wahl habe ich mir die Plakate einiger Parteien genauer angeguckt.

Eine Welt in Schwarz, Weiß, Gelb

Christian ignoriert mich. Wenn er von Bildung redet, guckt er denkend nach unten, als wäre er gerade mitten im Gespräch. Wenn er die Zukunft im Blick hat, dreht er den Kopf nach links, als wolle er gucken, was es noch alles zu tun gäbe. Und wenn er Steuererhöhungen ablehnt, dann weht sein sonnengebleichtes Haar im Wind, als würde er in einem hellblauen Leinen-Anzug an der Ostsee sitzen und eine Hopfenkaltschale trinken, während er ein Interview gibt.

Christian Lindner, Protagonist meiner angefeuchteten Tagträume, Vorbild für einige Bad-Boy-Romances mit Politik-Einschlag und der Mann, dessen größte Liebe wohl immer der Graustufen-Filter eines Bildbearbeitungsprogramms sein wird, weil er in Farbe immer noch wie ein Studierender des dritten Semesters aussieht, blickt an mir vorbei. Drei Wahlplakate hängen vor meinem Haus und ich weiß immer noch nicht, ob die FDP mit mir redet oder dem Nachbarn, dessen Hund gerade die Straßenlaterne markiert. Was will mir die Partei damit sagen? Dass sie zu sehr damit beschäftigt ist, die Allgemeinheit zu retten, dass für den Einzelnen keine Zeit bleibt? Oder dass die Gesellschaft handeln muss, anstatt ein flottes Statement abzugeben? Oder sollen die Motive Vertrauen wecken, jemanden zeigen, der wirklich nachdenkt? Und warum hängen in meiner Gegend viele Plakate von Christian, aber nur wenige von Torsten Herbst, dem Direktkandidaten für den Wahlkreis 159, oder Dr. Silke Müller im Wahlkreis 160? Immerhin punktet die FDP mit einem ungewöhnlichen Design – statt Botschaft auf Bild ist beides untereinander platziert.

Monochrome Meilensteine

Ähnlich neue, gestalterische Wege gehen Bündnis 90/Die Grünen mit einem Grasgrün und Farbfilter. Wenig optimal für die Lesbarkeit, aber fröhlich. Von den Plakaten, die ich gesehen habe, wirken die Grünen authentisch und vielfältig – People of Color, lächelnde Menschen, Gemeinschaftsgefühl. Die meisten kleinen Plakate zeigen Alltagsmotive, nur wenige die beiden Direktkandidat:innen Kassem Taher Saleh (Wahlkreis 159) und Merle Spellerberg (Wahlkreis 160). Die Parteispitze Annalena Baerbock und Robert Habeck grinst mich eher von großformatigen Wänden an. Auffällig ist, dass Habeck meist näher an der Mitte steht und eine dynamische Haltung einnimmt, während Baerbock die Hände auf Höhe der Taille gefaltet hat und souverän wirkt. Ich finde, dass sich das gut ergänzt. Interessant, dass beide nicht in dieselbe Richtung gucken und wohl nicht zusammen fotografiert wurden.

Eine Farbe macht noch keine Botschaft

Im Kontrast dazu stehen die Plakate der SPD, deren schwarz-weiße Porträts vor knallrotem Hintergrund eher zu einem experimentellen Theater passen als zu einer Partei. Sie wirken auf mich, als wollte man Aufmerksamkeit und bliebe die Inhalte schuldig. Denn Wahlversprechen sehe ich auf den Plakaten selten. Stattdessen setzt die Partei nur auf Gesichter – was schade ist, weil das den Direktkandidat:innen Rasha Nasr (Wahlkreis 159) und Stephan Schuhmann (Wahlkeis 160) keinen Funken Persönlichkeit zugesteht. Nasr hat z. B. auf ihrer Website ihre Wahlversprechen noch mal als Cupcakes aufbereitet – die ein prägnanteres Motiv gewesen wären.

Die Plakate der Piraten erinnern mich an eine Briefmarken-Serie aus den 60ern – lila Motive auf weißem Grund, umrahmt von Orange. Ich finde das Design auffällig, aber es kommt bei mir nicht so gut an, weil die Menschen fehlen. Die (wenigen) Plakate von Anne Herpertz (Wahlkreis 160) und Stephanie Henkel (Wahlkreis 159) finde ich aber natürlich und lebensnah.

Einfachheit und Sicherheit

Wie Bewerbungsbilder wirken die Plakatmotive der CDU. Umrandet von einem schwarz-rot-goldenen Kreis blicken mich Dr. Markus Reichel (Wahlkreis 159) und Lars Rohwer (Wahlkreis 160) an. Wahrscheinlich, weil jemand beide so toll fand, dass er gleich beide Motive in meinem Viertel aufgehängt hat. Mittlerweile haben das findige Helfer:innen korrigiert, aber ich fand das verwirrend. Die Herren sehen aus, als könnten sie mir problemlos einen Bausparvertrag und ein Girokonto als Gratiszugabe verkaufen. Plakate mit Wahlsprüchen fehlen, aber das Internet zeigt, dass die CDU sehr einfache und einheitliche Slogans verwendet. Im Gegensatz zu den Grünen („Wir retten Bienen retten uns“) und der FDP („Make it Germany“), deren Wortspiele eher für Irritation sorgen. Die CDU setzt auf simple Botschaften zu Familie, Bildung und Alter. Was das „gemeinsam Machen“ konkret bedeutet, das spiegeln die Motive wenig wider, aber es sind schöne Fotos. Und: Jeder mag doch Babys.

Viel hilft viel?

Die Linke geht in meiner Wahrnehmung etwas unter. Oft sehe ich sie als Ergänzung zur SPD, weil sie den Text nutzt, der der SPD fehlt. Ich finde die Plakate unruhig und kleinteilig, kann die Botschaft nicht so gut erfassen. Im Gegensatz zu anderen Parteien notiert Die Linke konkrete Vorschläge zur Rente und zum Mindestlohn. Als Betrachterin gibt mir das Stoff zum Nachdenken und ich weiß auf den ersten Blick, was ich von der Partei erwarten kann. Andererseits sprechen die Plakate wenig Emotionen an, weil die Fotos untergehen. Das Lächeln von Spitzenkandidatin Janine Wissler finde ich natürlich und freundlich. Von den Kandidat:innen für den Wahlkreis 159 (Katja Kipping) und 160 (Silvio Lang) habe ich bisher wenig gesehen.

Optisch angesprochen hat mich die öpd. Die Partei setzt auf symbolhafte Gegenstände vor orangenem Hintergrund. Es sind Werke, die ich gut erfassen kann und die im Kopf bleiben. Von den Direktkandidat:innen Markus Peter Taubert (Wahlkreis 159) und Florian Busch (Wahlkreis 160) habe ich noch keine Vorstellung.

Im Auge der Betrachter:innen

Welche Plakate und Parteien ich wahrnehme, hängt natürlich vom Budget der Parteien ab, aber auch davon, in welchen Stadtteilen die Zielgruppen vertreten sind. Und von den Unterstützer:innen, die nachts Laternen und anderes nutzen. Manche Parteien setzen auf allgemeine Botschaften und die Spitzenkandidat:innen, die man aus den Medien kennt. Anderen sind lokale Politiker:innen wichtig oder sie legen den Schwerpunkt auf Konkretes.

Letztlich ist nicht nur entscheidend, wessen Wahlprogramm zu mir passt, sondern ob ich den Personen dahinter auch zutraue, dass sie „meine“ Interessen inmitten von über 700 Sitzen (im aktuellen Bundestag) vertreten können – fachlich, aber auch menschlich. Daher: Blickt hinter die Fassade, recherchiert Meinungen und Gegenmeinungen! Futtert Gratis-Cupcakes und Brownies und sprecht mit den Kandidat:innen! Und wenn nichts hilft: Der Wahl-O-Mat geht morgen online.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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