Roman vs. Realität

Sie sind ein unverzichtbarer Teil einer jeden Buchhandlung. Gut platziert kurz hinter dem Eingangsbereich. Ausgestattet mit buntem Cover oder Protagonisten, denen die Kleidung fast von allein vom perfekten Körper fällt: Liebesromane. Es gibt sie mit und ohne Sex, mit Collegestudentinnen, Twentysomethings, die sich wie Teenager verhalten, oder Autorinnen in der Sinnkrise. Oder Mitvierzigerinnen, die nach einem schweren Schicksalsschlag das Apfelkuchenbacken und die Liebe für sich entdecken. Der Vollständigkeit halber: Es gibt Liebesromane nicht nur in männlich-weiblichen Konstellationen, sondern auch in männlich-männlicher, weiblich-weiblicher oder in noch immer nicht normalen Kombinationen mit Trans-Menschen oder Leuten, die asexuell sind. Diese stehen dann aber weit hinten im Regal oder in den Weiten des Internethandels, denn alles braucht seine Ordnung!

Ich lese gern Liebesromane, weil sie so berechenbar sind. Problem, Mann, Lösung. Weil sie mir sagen, dass ich eine „gute“ Frau bin, sobald ich mich hübsch kleide, überdramatisch durch mein Leben stolpere und so tue, als sei ich ich selbst, obwohl ich eigentlich nur gesellschaftlichen Idealen folge. Manchmal macht mir das tatsächlich Spaß. Dieses simple Leben, ohne einen Funken Realität. Und nach spätestens einem Drittel der Seiten möchte ich mir die Eierstöcke aus dem Körper reißen, Männer auf eine einsame Insel verbannen und zu einer Qualle mutieren, denn die haben kein Gehirn, die leben nur. Dann, wenn ich feststelle, dass das wahre Leben komplexer, schöner und schmerzvoller ist. Es ist der Moment, in dem ich feststelle, dass ich als Protagonistin in einem Liebesroman völlig falsch wäre.

Problem Nr. 1: Ich habe einen Job. Das bedeutet, dass ich nicht nur meine Miete selbst zahle, sondern auch das Essen. Wenn mich jemand in ein teures Restaurant einlädt, in dem eine Vorspeise so viel kostet wie die Sammelbox meiner queeren Lieblingsserie, dann freue ich mich wie eine Schneekönigin. Ich kann aber ausführlich diskutieren, wenn mich jemand beim ersten Date ungefragt einlädt. Ich habe einen Job, der mir Spaß macht. Mir die Nächte um die Ohren schlagen, bis zum Sonnenaufgang Wein auf Brücken trinken oder Grüppchen zweier Haushalte beim Einhalten der Abstandsregeln beobachten, das mache ich gern. Solange ich am nächsten Morgen fähig bin, meinen Kunden eine kompetente Auskunft zu geben. Und ja, mein Job hat Arbeitszeiten. Spontan zwei Wochen in die Karibik fliegen oder mit dem Sänger einer Boyband um die Welt touren, das mache ich gern – wenn Mensch mir danach einen neuen Job besorgt. Ich weiß nicht, woher Protagonistinnen in Liebesromanen die Zeit nehmen, den ganzen Tag Blütenblätter aus Gänseblümchen zu zupfen, im Feierabend-Stress die Instagram-Seite des Schwarms vollzuspammen oder Bürodrehstühle mit ihrer Erregung vollzunässen – ich hab sie meistens nicht.

Problem Nr. 2: Ich habe Hobbys. Und Freunde. Freunde, die nicht dazu da sind, damit ich als Protagonistin nicht allein bin und komisch wirke oder damit man daraus einen spannenden Plot kreieren kann. Ich habe meine Freunde nicht, damit ich mit einer Mischung aus Coolness und Verzweiflung über andere Menschen und den Rest der Welt lästern kann. Nein, ich habe meine Freunde, weil ich mit ihnen über ihre Probleme oder ihr Leben rede. Oder Blödsinn zusammenspinne, der jede Satiresendung übertrifft. Weil ich sie wirklich gernhabe. Und ich habe Hobbys, die Zeit beanspruchen – zum Beispiel diesen Text. Und es kann passieren, dass Mr Perfect sich nach der nächsten Deadline oder den Arbeitszeiten meiner besten Freundin richten muss.

Problem Nr. 3: Ich bin mehr als eine Problemzone. Ich verbringe nicht 24 Stunden des Tages damit, mich zu dünn oder zu dick zu finden, über Fettröllchen Kurvendiskussionen zu führen oder mir einzureden, dass manche Männer auch dürre Menschen geil finden. Manchmal finde ich mich toll, manchmal hässlich. Manchmal ist es eine halbe Stunde, manchmal sind es nur fünf Minuten. Manchmal verdirbt mir eine falsch liegende Haarsträhne den ganzen Tag, an anderen habe ich keine Zeit, mich im Spiegel zu betrachten. Ein Partner und dessen Anerkennung kann mir Selbstbewusstsein geben und dafür sorgen, dass ich meinen Körper anders bewerte – aber er ändert sich nicht und ich mich auch nicht. Aussehen ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, aber es ist kein Problem, das sich mit einem Partner lösen lässt.

Problem Nr. 4: Ich bin mehr als eine Vagina. Auch wenn uns Liebesromane vorgaukeln, Mann müsste nur die richtige Bartlänge und eine gute Portion Arschloch-Attitüde gepaart mit Empathie haben, damit Frau zur ewig sprühenden Wunderkerze würde, die schon beim Anblick eines ausgefahrenen Gemächtes in Flammen der Leidenschaft aufgeht, möchte ich es kurz und schmerzvoll machen: Nein. Ich habe viele erogene Zonen oder einfach Körperstellen, die sich gut, sehr gut oder, im Gegenteil, sehr schnell ziemlich unangenehm anfühlen. Einige kenne ich nicht, andere wechseln, sind stimmungsabhängig wie Zauberringe. Es ist ein bisschen wie Minesweeper: Einen Millimeter zu weit und es ist vorbei. Andererseits kann selbst eine Stimme oder ein Geruch sehr positiv sein – etwas, das in Liebesromanen selten vorkommt. Wahrscheinlich, weil sich die Optik leichter beschreiben lässt. Vor allem reicht es nicht, dem Partner zu sagen, wie toll man seinen Körper findet, als wäre das das magische Zauberwort. Oder wieviel er oder sie geleistet hat. Sondern dass man ihn als gleichberechtigen Partner für das gemeinsame Erlebnis sieht.

Problem Nr. 5: Ich bin komplex. Beziehungen auch. In Liebesromanen bringt die Protagonistin meist ein großes Problem mit – schwierige Ex-Freunde, familiäre Geschichten oder ein paar Macken, die durch den Mann korrigiert werden müssen. Stichwort: Ziel der Heldenreise. Meine Macken sind vorher da und werden auch mit der Beziehung bestehen. Sie werden weniger, aber sie lösen sich nicht auf. Z. B. kann ich nicht in Hotelbetten schlafen, obwohl ich gern in Hotels bin. Ich bin in manchen Situationen so nervös, dass ich nichts essen kann, obwohl ich Appetit habe. Ich stehe gern früh auf. Ich lege die Worte mancher Menschen intensiv aus und grüble darüber sehr lange nach. Und je mehr ein Mann meine Probleme lösen wollte, desto mehr haben sie sich verknotet.

Umgekehrt sind auch Männer nicht die Helden, sondern haben Zweifel an sich, ihrer Karriere oder ihrer Art, mit anderen zu kommunizieren. Das macht sie nicht zu interessanten Gegenspielern, sondern menschlich. Und „komplex“ bedeutet auch, dass sich Menschen in Beziehungen verändern. Dass Charaktereigenschaften zutage treten, die dem Gefüge förderlich sind oder eher schaden. Liebesromane zeigen die Figuren meistens glücklich vereint – als hätten sie sich im Laufe eines Monats bereits auf Herz und Nieren getestet. Meine Realität ist eine andere: Man lernt sich laufend kennen. Bis man feststellt, dass man ein Stück neben der Spur läuft. Was auch okay ist.

Problem Nr. 6: Mein Happy End sind weder Heirat noch Kinder noch ein gelungener Apfelkuchen. Vielleicht funktioniert mein Kopf nicht richtig, denn ich bringe gute Voraussetzungen mit: Ich habe als Kind viele Disney-Filme geguckt, finde Hochzeiten romantisch und nichts bringt mein Herz mehr zum Schmelzen als ein glückliches Pärchen, das seine Umwelt überstrahlt. Und viel zu oft vergleiche ich meine Beziehung mit anderen und habe Angst, keine gute Partnerin zu sein. Dass ich erst dann eine „richtige“ Frau bin, wenn ich mit Ring am Finger am Herd stehe, während ich Kinder, Kochlöffel und Kunden vor mir her jongliere. Wenn ich es geschafft habe, einen Mann von mir zu überzeugen. Bis mir auffällt, dass ich das eigentlich nicht will. Dass ich nicht abhängig von einem Partner sein möchte, weder finanziell, noch steuerrechtlich, noch gesellschaftlich, wenn ich eine Ehe nur der Institution Ehe wegen erhalte.

Kinder finde ich klug und manchmal niedlich und ich bewundere sie dafür, dass sie ihre Emotionen einfach nach außen tragen können. Und ich kenne Menschen, die als Eltern aufblühen und denen ich gern dabei zugucke. Aber ich weiß nicht, ob ich die Zeit als kreativer Chaoskopf gegen gemeinsame Zeit mit einem Kind eintauschen möchte. Ob ich ein Mensch wäre, der die Verantwortung tragen und einem Kind genügend Werkzeuge für ein erfülltes Leben mitgeben könnte. Letztlich fallen mir nur egoistische Motive ein, damit sich mindestens drei Menschen in dieses Abenteuer wagen, von denen einer noch nicht entstanden ist. Ich lehne Ehe und Kinder nicht ab. Aber wäre ich eine Protagonistin in einem Liebesroman, wäre das nicht das Ende, sondern der Anfang und ich würde zuerst die Vor- und Nachteile ausdiskutieren. Aber am Ende muss die Familie wieder hergestellt sein, die natürliche Ordnung, die Sicherheit.

Wäre ich eine Figur in einem Liebesroman, würde mich der Autor sofort rausstreichen, weil ich mehr zur unwichtigen Nebenfigur denn zur Heldin tauge. Weil ich keine Heldin bin – kein Ausmalbilchen; keine Anziehpuppe, der irgendein Kleid passt. Ich habe zu viele Wenns und zu viele Abers; zu viele Puzzleteile, die sich ständig drehen. Und letztlich ist das das Problem: Menschen taugen nicht zu Figuren, weil sie nicht berechenbar sind. Weil man mit ihnen keine Bücher verkauft. Weil der vermeintliche Leser seinen Alltag, der schon vielschichtig genug ist, nicht auch noch in Büchern sehen will. Aber wäre es nicht besser, wenn uns Literatur nicht das Ideal zeigt, sondern dass unsere Welt in all ihrer Komplexität ideal ist? Dass (fast) jeder repräsentiert wird und das Gefühl bekommt, dass seine Emotionen in Ordnung sind? Und dass „Liebe“ so viel mehr tolle, hässliche, aufregende Facetten haben kann, als in den meisten Liebesromanen zu lesen ist?

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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