Carpe Quarantäne

Ich bin eine schlechte Optimistin. Wenn ich einen halbvollen Plastikbecher sehe, dann möchte ich drauftreten, weil er nicht mal ansatzweise voll ist, sondern kurz vor dem Austrocknen. Es ist die zweite Woche, in der Corona von einem mulmigen Gefühl hin zu einer Stadt im Dornröschenschlaf geworden ist. Und auf Social Media übertreffen sich persönliche Erfolgsmeldungen. Endlich Zeit, die Wohnung aufzuräumen, und das Seelenleben gleich mit. Endlich drei Sprachen gleichzeitig lernen, während man eine neue Klaviersonate einübt. Endlich ruhige Straßen, kein Sprinten nach der Bahn, kein Leistungsdruck. Endlich weg von all dem Konsum und dem Hetzen. Interessiert ja keinen, wer dahinter steht. Hauptsache, etwas für die Gesellschaft getan.

Der Kampf dahinter? Nebensächlich. Eltern, die mit ihren Arbeitgebern verhandeln müssen, damit einer von beiden auf das Kind aufpassen kann. Arbeiter, die jede Woche auswürfeln, ob die Bahn noch fährt. Leute im Homeoffice, denen die Decke auf den Kopf fällt. Menschen, die einsam sind.

Neulich habe ich es gewagt. Unter dem Deckmantel des „Spazierengehens“ habe ich mich aus meiner Wohnung gewagt, vorbei an dem Streifenband um den Spielplatz, den immer noch keiner betreten hat, und vorbei an dem anderen Spielplatz, bei dem ich mich frage, ob er zu klein ist, um ein rotes Band zu bekommen. Ich gehe nach draußen und sehe eine Stadt, die nicht ausgestorben ist, sondern nur zu ruhen scheint. Ich fühle mich nicht allein, eher so, als hätten sich alle versteckt und würden mit einer Konfetti-Kanone hervorspringen, wenn alles vorbei ist. Ich betrachte das Panorama im Sonnenuntergang. Tatsächlich: Ohne Autos und ohne Touristen nehme ich die Stadt intensiver wahr. Ich entdecke, wo sich die Sonne spiegelt und welche Farbe das Kopfsteinpflaster hat. Und dann gehe ich am Theater vorbei und mir wird bewusst, dass hier wohl auch in zwei Monaten nicht gespielt wird. An diesem Ort, der dazu geschaffen wurde, Menschen zu erfreuen. Ich passiere das Einkaufszentrum und den Laden mit den erzgebirgischen Holzfiguren. Ich kann nicht reingehen und die Atmosphäre genießen. Ich kann nicht in Zeitungen stöbern und mir bewusst machen, dass ich sie mir nicht mehr mühselig vom Taschengeld absparen muss, sondern sie kaufen könnte. All die Möglichkeiten, die ich so geliebt habe, sind weg. Ich pralle gegen eine Wand. Und überhaupt: Wie viele Läden werden „danach“ noch existieren? Wie viele Menschen werden ihre Existenz verloren haben?

Was ist das „danach“? Wie wird sich unsere Welt verändert haben, wenn wir nach wochenlanger Selbstisolation wieder an die Oberfläche treten? Wird es uns nach Leben dürsten? Werden wir unser Umfeld besser genießen, bevor die nächste Krise kommt? Werden wir uns einigeln, uns auf das Wesentliche konzentrieren? Ist noch Geld und Kraft für die Schwachen da, wenn die Starken wieder auf die Beine kommen müssen? Werden die Scheidungs- oder die Kinderrate ansteigen, jetzt, wo alle Zeit zum Streiten und Versöhnen haben? Und wie frei werden wir sein? Wie lange geht das und wie lange halten wir das aus?

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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