Manchmal hasse ich Theater. Man schiebt sich durch zu enge Sitzreihen und verstaut seine Tasche irgendwo unter dem Stuhl. Dann wird es stockdunkel, während sich die Anspannung im Saal ausbreitet und der Raum sich anfühlt, als hätte man alle Luft aus ihm gesaugt. Die einzigen Laute, die in den nächsten zwei Stunden erlaubt sind, sind Atmen, anerkennendes Nicken und Applaus – zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Dauer und Lautstärke. Wer aufhört, bevor die Spieler endgültig die Bühne verlassen haben, hat das Spiel nicht verstanden.
Ich hasse den Moment, in dem sich Theater von der Kunst zum gesellschaftlichen Ereignis wandelt und ich das Gefühl habe, nicht die falschen Knöpfe drücken zu dürfen. Aber ich bin auch sehr neugierig. Deswegen war ich Feuer und Flamme, als mich mein Partner zu jenem Stück einlud, das in meinem Bekanntenkreis als „zu hart“ galt. Keiner hat mir erklärt, was „zu hart“ bedeutete, aber ich rechnete mit Ekel, Horror und atonalen Geräuschen. Und dann saß ich da und versuchte, mich mit einem extra scharfen Minzkaugummi von meiner Nervosität abzulenken.
Nach einer halben Stunde passierte das Schlimmste, was passieren konnte – es ging jemand. Ein Pärchen stand planlos vor einer Tür und wartete darauf, hinaus gelassen zu werden. Zuerst dachte ich, sie müssten auf die Toilette. Vielleicht fühlten sie sich zweisam weniger einsam. Oder er musste sichergehen, dass ihr Kleid nach dem Klobesuch genauso saß wie vorher. Aber sie kamen nicht wieder. Und das Spiel wiederholte sich. Immer mehr Menschen verließen den Saal. Manchmal schien es, als würde einer anfangen und die anderen folgen. Später würde ich in den sozialen Medien lesen, dass das bei diesem Stück normal sei, und dass ohnehin bei jeder Aufführung Strichlisten geführt würden. Ich stellte mir vor, wie die Mitarbeiter live in ihrer WhatsApp-Gruppe die Besucherstände verfolgten und bei jedem 50. verlorenen Besucher eine Praline naschten. Sollte man sogar die 100 geknackt haben, wurde eine Flasche alkoholfreien Schaumgetränks geköpft.
Ich saß da und suchte. Einen Ansatz. Die Antwort auf die Frage, was der Künstler uns damit sagen wollte. Ich kannte die Vorlage nicht und wusste nicht, was mir das bringen sollte. Ich war nicht betroffen und nicht schockiert ob des Stoffes, sondern verwirrt aufgrund der Gestaltung. Es war ein beunruhigendes, dumpfes Gefühl, das erst verschwand, nachdem ich später im Restaurant die Kritiken gegoogelt und eine näherungsweise Lösung gefunden hatte. Ich habe das Stück gern angeguckt, aber ich konnte es nicht greifen. Und bei jedem Pärchen, das durch die Tür in eine spannendere Abendgestaltung aufbrach, fragte ich mich, wann es bei mir soweit sei. Wann der Drang zu gehen so übermächtig werden würde, dass ich aufstehen, mich durch die halbleeren Sitzreihen wühlen und nach draußen tippeln würde.
Aber er kam nicht. Denn ich sah darin nicht nur Kunst, ich sah Arbeit. Viel Arbeit, die investiert wurde. Vom Regisseur, vom Bühnenbildner, von den Schauspielern. Was auf der Bühne so fließend aussieht, braucht wochenlange Proben. Für den Stoff, die Dialoge, die Choreografie. Natürlich wissen professionelle Schauspieler, wie sie sich sowas erarbeiten. Sie sind sogar so gut, dass sie binnen zwei Tagen eine komplette Rolle lernen können und auf der Bühne nur das Textbuch verrät, dass sie eingesprungen sind. Theater ist ein Balance-Akt. Zum Beispiel stilistisch. Erwartet das Publikum eine genaue Darstellung der Handlung, eine „klassische“ Aufführung mit Kostüm? Oder genau das Gegenteil? Ist ein Stück langweilig, wenn nicht die vierte Wand durchbrochen wird oder sich jemand von der Bühne abseilt? Wieviel Neues darf ein alter Text haben?
Theater macht einen Dramentext lebendig. Die Stimme füllt Lücken, die der Text gelassen hat. Gibt einen Rhythmus vor. Wie die Bildbearbeitung bei einer Raw-Fotodatei am Computer holt die Aufführung aus dem Text das raus, was er sein kann. Für manche Zuschauer muss es klassisch sein. Sie fühlen sich wohl, wenn sie passende Kostüme und eine vollständige Handlung sehen. Es gibt Sicherheit im ungemütlichen Alltag mit seinen Herausforderungen. Es gibt aber auch Zuschauer, die das Gegenteil wollen. Die des Textes überdrüssig sind und eine abstrakte Weiterentwicklung wünschen. Die sich beteiligen wollen. Leute, die ihre Komfortzone bestätigt sehen möchten, und Leute, die sie verlassen wollen. Theater ist so vieles.
Ich habe beide Seiten gesehen. Ich war das aufgeregte Kind in den Sitzreihen, ich war die Erwachsene, die auf der Bühne steht. Das Kind, das nicht weiß, was es erwartet. Die Erwachsene, die gemeinsam mit den anderen Ensemble-Mitgliedern und dem Regisseur dessen Vorstellungen in die Realität umsetzt und auch nicht weiß, was sie erwartet. Die die Aufregung kennt, wenn sie vor der ersten Aufführung Angst hat, die Anschlüsse zu vermasseln. Wenn sie bei der dritten Vorstellung Sicherheit verspürt, später Routine. Und sich nach der Abschlussveranstaltung fragt, wie es jetzt weitergeht, ohne die täglichen Proben. Ohne die Menschen, die in diesem intimen Prozess zu einer Familie geworden sind.
Wenn ich an diesen Abend mit dem halbleeren Saal zurückdenke, dann suche ich Wut. Ich suche die Empfindung, die jene gespürt haben, die gegangen sind. Aber ich finde nur Respekt. Und Dankbarkeit. Dass es Menschen gibt, die soviel von sich geben, um mir einen schönen Abend zu bereiten.
Text: Vivian Herzog
Foto: Amac Garbe