Kurze Sonderlinge

Sonderbares und Merkwürdiges hielten die Schwerpunktthemen des 31. FILMFEST DRESDEN für uns bereit. Der Fokus lag mal auf regionalen Schätzen – junge Produktionen wie fast verblasste Fundstücke –, mal auf Geschichten aus weit entfernten Sphären. Manche Filme sind geeignet, Zuschauer_innen in eine Sinnkrise zu stürzen, andere fesseln nicht ihres Inhalts wegen, sondern durch ihre kunstvolle Machart. 388 Kurzfilme gab es zwischen dem 9. und 14. April zu sehen. Wer sich nicht die komplette Woche freigenommen hat, wird nur einen Bruchteil davon gesehen haben. Nur wenige bleiben im Gedächtnis. Campusrauschen hat fünf Lieblinge aus den Sonderprogrammen für Euch ausgewählt, die dies – zumindest bis heute – geschafft haben.

Filmemacher_in unbekannt: „Zwinger 1941“ (1941)

Ein vertrautes Bild. Der Dresdner Zwinger in fast gestochen scharfen Farbaufnahmen. Darin: Mädchen und Frauen in sportlich-modernen Kleidchen, die einen Tanz aufführen. Doch etwas stimmt nicht. Es fehlt der Ton. Und bald sticht auf Aufnähern und Fahnen ein verhängnisvolles Zeichen hervor: das Hakenkreuz der Nationalsozialisten.

Diese Aufnahmen, die im Regionalen Fokus 3 zum audiovisuellen Erbe Sachsens zu sehen waren, sind tatsächlich 78 Jahre alt. Dabei ist das Filmmaterial derart gut erhalten, dass man sich verwundert die Augen reibt – und dann nach Atem ringt. Denn die vorzügliche Qualität suggeriert Gleichzeitigkeit oder zumindest nahe Vergangenheit. Das Material wirkt wie ein schlechtes Omen oder ein Mahnmal. Zeit ist eben manchmal nur ein retardierendes Moment und Ideologien bleiben.

Das Projekt zur Sicherung des sächsischen audiovisuellen Erbes war von 2016 bis 2018 beim Filmverband Sachsen ansässig und geht nun an die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek über. Ihm verdanken wir nicht nur mahnende Momente wie die Aufnahmen aus dem Zwinger, sondern auch Videomaterial über den letzten Saitenmacher im Vogtland wurde gesichert und zugänglich gemacht – dieses Mal mit Ton, natürlich auf Vuchtländisch. (NaF)

Octavio Cortázar: „Por Primera Vez“ (1967)

Während wir jeden Tag unseren Mojito mit kubanischem Rum anrühren oder im Kiosk nebenan eine Romeo y Julieta kaufen können, ist es gar nicht so leicht, aktuelle kubanische Filme nach Europa zu bringen. Einfach ins World Wide Web hochladen geht auf Kuba nicht so einfach, denn das Netz ist vielerorts schlecht ausgebaut oder instabil. Also schnappten sich die Kurator_innen des Schwerpunktes Kuba eine Festplatte mit viel Speicherplatz und begaben sich auf die Insel, um die Filme mitzunehmen. Warum auch nicht? Aus diesen mitgebrachten Filmen und älteren Streifen strickten sie sechs Programme – zu einem Land, das sowohl für Aufbruch und Stillstand steht.

Um „Neuland“ geht es auch in der Dokumentation „Por Primera Vez“ (deutsch: „Zum ersten Mal“) von Octavio Cortázar, die einfach nur glücklich macht. Sie erzählt von dem kleinen Dorf Los Munos und seinen Bewohner_innen, die noch nie einen Film gesehen haben. Wir hören sie mutmaßen, was überhaupt ein Film sein könnte, und sehen ihnen dabei zu, wie sie den ersten Film ihres Lebens schauen. Die Reaktionen auf Charlie Chaplins „Modern Times“ rühren fast zu Tränen. Cortázar schafft es mit seiner Dokumentation, ebenso viel Freude bei den Zuschauer_innen zu erzeugen wie damals bei den Menschen, denen das „cine movil“ – wenn es sein musste auf Booten – die Filmkunst auch ins kleinste Dorf brachte. Wir als Zuschauer_innen müssen uns unweigerlich fragen, inwieweit wir filmische Schätze heute tatsächlich (noch) wertschätzen (können). Konsumieren wir – die Generation Netflix – nur noch oder können Filme in uns auch heute noch dieses Leuchten, das die Kinder aus Los Munos in den Augen hatten, entfachen? (MGA)

Witold Giersz: „Signum“ (2013)

Dem ehemaligen DEFA-Studio für Trickfilme sei Dank hat Dresden eine gewisse Animationsfilm-Tradition vorzuweisen. So war es auch nicht übermäßig überraschend, dass das FILMFEST DRESDEN seinen Schwerpunkt in den 90ern auf Kurz- und Animationsfilm legte. Neben den trickreichen Filmen im Wettbewerb gibt es heuer auch eigene Animationsfilmreihen, die zwischen den pulsierenden Werken von Max Hattler und den ausgetüftelten Science-Fiction-Welten von Piotr Kamler changieren.

In diesem Jahr kam die (Öl-)Malerei im Film auf die Leinwand. Jochen Kuhn ist ein Meister darin und durfte nach einem Programm mit seinen Filmen darüber berichten. Ein zweites Programm widmete sich zahlreichen Kolleg_innen, darunter Alexander Petrov und seine „Rusalka“, aber auch Witold Giersz mit „Signum“. Höhlenmalereien von vor zehntausenden von Jahren werden da vor unserem Auge lebendig. Ganze Herden von Tieren galoppieren auf dem Stein dahin. Auf Stein gemalt wird Szene für Szene abfotografiert, die Malerei wieder gelöscht und die Arbeit beginnt von vorn. Ein Bild für den Bruchteil einer Sekunde, der in der Summe Geschichte lebendig macht. (NaF)

Clara Winter und Miguel Ferráez: „Postcolonialism in 30m²“ (2015)

Es ist ja tatsächlich so, dass man sich als Bewohner_in eines Landes, dem es so prächtig geht, dass es anderen Ländern diktieren kann, wie diese zu wirtschaften haben, hin und wieder fragt, welche Rolle man selbst bei der Ausbeutung und Maßregelung anderer Staaten spielt. Oder zumindest, wie man sich davon abgrenzen kann.

Die junge Frau in „Postcolonialism in 30m²“ von Clara Winter und Miguel Ferráez (sowohl Regisseur/in als auch Protagonist/in) geht einen Schritt weiter als nur Fair-Trade-Produkte zu kaufen und stellt sich einem jungen Mann aus einem „Dritte-Welt-Land“ zur Verfügung. Sie entscheidet sich für ein gewöhnlich aussehendes Wohnviertel in Mexiko, das nun wirklich kein unterentwickeltes Land ist, aber vielleicht hat sie Angst, sich wirklich prekären Bedingungen auszuliefern.  Vielleicht will sie auch nur ihr Spanisch aufbessern. Der begünstigte junge Mann ist überrascht, nimmt ihre Hilfe aber gerne an. Ab sofort bekocht sie ihn, putzt seine Wohnung, stellt allerdings auch strenge Regeln auf, um das Beste aus ihrem neuen Mitbewohner herauszuholen. Sie weiß natürlich wie das geht, denn sie kommt ja aus einem reichen europäischen Erste-Welt-Land.

„Postcolonialism in 30m²“ zeigt mit viel Humor, aber einer durchdringenden Ernsthaftigkeit zwischen den Zeilen, wie reiche Länder ihre (wirtschaftliche) Macht ausüben und so einen neuen Kolonialismus praktizieren, der sich als Entwicklungshilfe tarnt, eigentlich aber dem eigenen Vorteil dient. Das Zuschauen bei diesem Exempel auf 30m² vermag es wachzurütteln. Und vielleicht bringt es den einen oder die andere Zuschauer_in auch dazu, bis Ende Mai noch einmal genau zu überlegen, welche Parteien diesen neuen europäischen Kolonialismus fördern. (MGA)

João Paulo Miranda Maria: „Meninas Formicida“ (2017)

Der Blick auf einen wohlgeformten Hintern. Das ist so ziemlich das Erste, was wir in João Paulo Miranda Marias Film zu sehen bekommen. Er ist hier so vorherrschend wie in der gesamten brasilianischen Kultur. Die Frau als Lustobjekt, als namenloses Körperteil. Hier gehört er zu einer jungen Frau, die im brasilianischen Eukalyptuswald Ameisen mit Pestiziden tötet und eine Affäre mit einem gesichtslosen Mann hat, der in festen Händen ist. Sie trifft einen Entschluss, der nicht nur ihre Schwangerschaft beenden könnte.

João Paulo Miranda Marias Kurzfilm „Meninas Formicida“ lief im Diskurs Europa 1 – Gender Trouble, den Filmfest-Kurator Sven Pötting zusammen mit Kolleg_innen vom Sonderforschungsbereich 1285 Invektivität an der TU Dresden gestaltet hatte. Er hinterfragt Rollenklischees und die gleichzeitige Herabsetzung von Menschen, so wie hier die Frau als Lustobjekt allein mit den Konsequenzen einer Liaison klarkommen muss. Weniger drastisch beleuchteten andere Film beim Festival beispielsweise, welche Rollen Frauen generell in Filmen zukommen und ob sie dabei etwas anderes tun, als sich mit oder über Männer zu unterhalten. In „Meninas Formicida“ wird hingegen fast gar nicht geredet. Aber die Gesichter sprechen Bände. Und die zeugen nicht vom Happy End, wie es ROXETTEs „It must have been love“ in
„Pretty Woman“ einleitet. (NaF)

Text: Nadine Faust & Marie-Therese Greiner-Adam

Zum Foto: OXO OHO traten nicht nur bei der Preisverleihung des 31. FILMFEST DRESDEN auf, der Videoclip zu ihrem Song „Bequemo“, gedreht von Anni-Josephine Enders, lief auch im Panorama und im Regionalen Fokus.

Foto: Amac Garbe

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