Campuskolumne

Paris, 1936: Ein Mann sitzt mit dem Rücken zur Kamera auf einem Dachfirst und reckt die rechte Faust in die Höhe. Weit unter ihm stehen Menschen auf beiden Seiten einer Straße und warten. Dahinter eine Baum- und Häuserreihe.

Ein Abzug des eben beschriebenen Fotos hängt derzeit im Stadtmuseum Dresden. „Dresden – Paris – New York“ heißt die Ausstellung, die noch bis 7. Oktober zu sehen ist. Der gebürtige Dresdner Fred Stein war 1933 mit seiner Frau vor den Nationalsozialisten nach Paris und später nach New York geflohen. Die Fotos machte er mit einer kleinen Leica-Kamera, ein Hochzeitsgeschenk. Sie ermöglichte der Familie Stein den Lebensunterhalt. Neben dem oben beschriebenen Foto mit dem Titel „Volksfront“ hängen andere Straßenszenen. „Kinder lesen die Zeitung“ oder eine Blumenverkäuferin mit Kind auf dem Arm. Die Fotos sind Kunst – und Geschichtszeugnisse.

Dresden, 2018: Bei einer Demonstration anlässlich des Besuches von Angela Merkel in Dresden filmen ZDF-Reporter Demonstrierende. Dabei dreht sich ein Demonstrant um, kommt auf die Kamera zu und sagt, er dürfe nicht von vorn gefilmt werden. Die Polizei wird dazugeholt, die die Journalisten über 45 Minuten davon abhält, ihre Arbeit zu verrichten. Das Ergebnis: eine deutschlandweite Diskussion über Pressefreiheit, Datenschutz und die Rolle der Polizei.

Zugegeben, die Zeiten sind andere. Neben dem Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie (kurz: Kunsturhebergesetz) von 1907, an dem sich Künstler und Journalisten bislang orientieren konnten, kommt in Deutschland und Europa seit Mai die Datenschutzgrundverordnung zur Anwendung. Und nicht nur in Zeiten digitaler Medien hat das auch durchaus seine Berechtigung. Doch bisher gibt es kein Gesetz oder rechtskräftiges Urteil, das besagt, dass das Kunsturhebergesetz nicht mehr gilt. Hier steht in § 23: „Ohne die nach § 22 erforderliche Einwilligung dürfen verbreitet und zur Schau gestellt werden: […] Bilder von Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen, an denen die dargestellten Personen teilgenommen haben“. Dass besagter Demonstrant nun frontal und in Großaufnahme zu sehen war, ist zudem der Tatsache geschuldet, dass er sich selbst zum Mittelpunkt der Aufnahme gemacht hat.

Fakt ist: Künstler und Journalisten müssen sich immer öfter mit ihren Rechten und Pflichten auseinandersetzen, was richtig und in Ordnung ist. Aber neben diesem Ton des Schreiens, Brüllens und Beleidigens in unserer Gesellschaft beschäftigen mich noch andere Fragen: Was wird in 82, 820, 8.200 Jahren von uns in Museen, Archiven und Bibliotheken zu sehen sein? Was bleibt übrig, wenn es nur die erlaubten Bildnisse in die Auswahl schaffen? Wenn Künstler und Journalisten nicht nur in autoritären Gesellschaften und Kriegszeiten von ihrer Arbeit abgehalten werden, sondern auch in einer Demokratie? Wenn sie nicht abbilden können, was sie sehen? Als Geschichtsstudentin habe ich damals als Erstes gelernt: Überlieferung ist zufällig und fragmentarisch. Und übrig bleibt oft nur die des „Siegers“.

Text: Nadine Faust

Foto: Amac Garbe

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