Campuskolumne

Es wäre sicher legitim, folgendes zu posaunen: Martin Winterkorn ist ein Verbrecher! Denn wer Manager eines des größten Konzerne der Welt ist und systematisch und vorsätzlich betrügt, dem könnte man ruhigen Gewissens ein solches Attribut anheften. VW selbst sieht das bereits so und versucht, den Imageschaden nun mit allerhand Heuchelei zu überstreichen. Doch solch intellektuelle Meisterleistung ist nach langer Überlegung schneller entlarvt, als manch andere sich den Kopf darüber zermartern können, ob sie sich nicht doch noch einen Zweit-SUV anschaffen sollten. Denn Herr Winterkorn ist, wenn man es recht besieht, ein Bauernopfer. Doch wo ein Bauer, da ein König!? Gehen wir auf die Suche nach diesem Schuft, diesem Verbrecher gegen die Menschheit!

Als artige Kapitalismuskritiker (Das Wort „Kapitalismusgegner“ existiert im Rechtschreibekanon bei Word standardmäßig nicht – die Domestizierung ist geschafft!) könnten wir nun auf „das System“ schimpfen. Zudem wären wir dabei ziemlich trendy – und dieses Trendysein ist ja immer furchtbar wichtig – denn in diesem Jahr zelebrieren wir bekanntlich den 200. Geburtstag von Karl Marx. Doch es gehört sich nicht, ihm, einem der größten und geistreichsten Denker der Menschheit, zu seinem Ehrenjahr Unrecht zu tun – wir sind ja nicht bei der Bild-Zeitung. Immerhin stoßen wir hier nun doch bereits auf ein wichtiges Indiz unserer Fahndung: Der Kapitalismus, als Gegenteil einer freien Marktwirtschaft, trägt, wie Marx ganz richtig als erster erkannt hat, nicht nur eine monopolistische Tendenz in sich (Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.), sondern verleitet Unternehmen dazu, Marktkonkurrenten möglichst auszuschalten. (Übrigens ist die Erstausgabe von „Das Kapital“ derzeit in der SLUB zu besichtigen!) Doch Marx wollte keine moralisch einwandfreie Gesellschaft, sondern gerade das Gegenteil: Er wollte den Menschen ermöglichen, egoistisch zu sein. Dafür müssten aber die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Jene sind heute nicht zu erkennen – bzw. nur noch völlig ausgelutscht vorhanden.

Und dennoch: Auch wenn einige Gesetze des Kapitalismus unverändert geblieben sind und Marx damit wohl auch noch in 1.000 Jahren aktuell ist (Hoffen wir darauf! Oder besser nicht?), müsste man einiges vom „Kapital“ aktualisieren: Zum Beispiel die von Marx damals belegte „Tendenz zur fallenden Profitrate“: Die Profitrate von VW ist trotz oder gerade wegen der ganzen Betrügereien äußerst ansehnlich. (Da wären wir also wieder bei der Heuchelei …) Wer ist also schuldig?

Nähern wir uns dieser Frage weiter folgendermaßen an: Der Kapitalismus wurde zwar zuletzt vor zirka 150 Jahren angeklagt, die Klage wurde aber vor rund 30 Jahren wegen Unvermögen fallen gelassen und die vormals entsetzlich kapitalismuskritischen Parteien haben sich zu lauen Lüftchen emanzipiert. Allerdings gab es da vor rund 60 Jahren einen vielversprechenden Versuch: Und zwar jenen von Ludwig Erhard, welcher versuchte, den bösen Kapitalismus wenigstens zu bändigen, einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus anzustreben. Dieser wurde sodann als „soziale Marktwirtschaft“ angepriesen. Auch wenn dieser Versuch auf einigen Widersprüchen fußte und letztlich halbgar war: Es war ein ernstgemeinter Versuch! Ein Versuch, der die Linkspartei heute mächtig inspiriert.

Haben wir nun also ein neues Indiz ausfindig gemacht? Die Politik ist der Verbrecher! Die Politik versucht nicht einmal, den radikalen Kapitalismus einzudämmen, sie ist sein treuster Diener! Da ist sicher etwas dran, die Dienerliste ist bekanntlich lang. Gerade Lobbyisten der Autoindustrie innerhalb der Politik sind eine Gefahr für die Demokratie und für gleiche Marktchancen.

Doch wer wählt denn … Ja, auch an diesem Gedanken ist etwas dran. Doch billig und realitätsfern wäre es dennoch, die politische Welt in Gut und Böse zu zerlegen. Denn sind wir nicht der Kapitalismus selbst? Sind wir es nicht, die gedankenlos bei so unzweifelhaften Größen wie Amazon, Nestlé, Lidl und Co. genüsslich einkaufen? Sind wir es nicht, die wie Wilde auf den Preis schauen, um das garantiert menschen- und umweltfeindlichste Produkt zu erwischen? Sind wir es nicht, die gedankenlos konsumieren und uns keinen feuchten Kehricht um die Auswirkungen scheren? Sind wir es nicht, die die kapitalistischen Früchte nicht mehr hinterfragen und uns auf Kosten anderer und nächster Generationen mit fetischisierten Waren (Marx!) betäuben? Sind wir es nicht, die in Wahrheit die Ausbeutung der Welt (Marx!) tolerieren, nur damit wir noch satter werden? Parteien wählen, die diesen Exzess aktiv unterstützen? Damit wir noch mehr vermeintlichen „Wohlstand“ anhäufen, der drei Tage später in der nächsten Mülltonne landet? Ist es nicht unsere Lebensweise, die wohl dafür sorgen wird, dass unsere Kinder uns fragen werden, was denn Singvögel seien und wo man solch exotische Exemplare besichtigen kann? Dass unsere Kinder uns fragen werden, wieso wir nichts gegen die unwiderrufliche Zerstörung der Natur getan haben? Warum wir denn süffisant nur jene als Radikale bezeichnet haben, die sich gegen diesen ganzen Irrsinn wehren und nicht gerechterweise zugleich (!) jene, die diesen Wahnsinn noch rechtfertigen? Und sind wir nicht eigentlich dieser Exzesse längst überdrüssig, wissen nur nicht so recht, was unser Lebenssinn ansonsten wäre?

Sind wir also mitschuldig? Jein! Einerseits hat jede/r eine Verantwortung, seinen Kopf einzuschalten, andererseits wäre es ein Vollzeitjob, sich im Dschungel der Produktpalette des „freien Marktes“ durchzuschlagen, ohne zur Ausbeutung beizutragen. Zumal das Problem verniedlicht wäre, wenn man behauptet, es gehe nur um „gute“ Waren.

Letztlich ist die Politik in der Verantwortung. Die neoliberale Staatsphobie und die Deregulation der Märkte scheinen zwar erste Risse zu bekommen, doch noch ist der Durchbruch zu einer neuen Ära nicht geschafft.

Man muss wohl konstatieren: Mein Namensvetter ist zwar nicht freizusprechen, doch schuldig im Sinne der Anklage ist er nur bedingt: Bekämpfen wir die kleinen, aber hartnäckigen Könige in uns! Bekämpfen wir die manifestierten Ideologien, welche sich unter Brennglas bei Parteien und im Parlament beobachten lassen und uns gleichzeitig den Spiegel vorhalten! Oder im Kleinen: Lasst uns von dem Protest der Studierenden der Hochschule für Bildende Künste Dresden inspirieren, die gegen die Ökonomisierung der Hochschulen demonstrieren, wie ein großer Banner derzeit vor dem Hochschul-Gebäude in Dresden-Johannstadt verrät. Lasst uns mal wieder „Deine Schuld“ von den ÄRZTEN hören.

Oder alternativ: Lasst uns Tabletten gegen kognitive Dissonanz erfinden! Denn es ist der Mensch in seiner Daseinsform, der wider besseren Wissens der Natur zum Verhängnis wird. Ist das alternativlos? Nein! Einen Markt für die Tabletten werden wir finden. Was für ein Segen!

Text: Martin Linke

Foto: Amac Garbe

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