Die Straßenbahn ist ein heimeliger Ort: Gemächlich ratternd bringt sie uns von A nach B und bietet Raum für unerledigte Hausaufgaben und unfreiwillige Kuschelstunden. Sie ist aber auch ein Ort, an dem unterschiedliche Menschen zusammen- und manchmal ins Gespräch kommen. Die TU Dresden hat diesen Gedanken mit einem „Bürgergespräch“ aufgegriffen und fragt: „Wie wollen wir zusammenleben?“
„Müssen wir hier einsteigen?“, fragt eine Frau und zeigt auf die Linie 7, aus der Menschen im Feierabendverkehr nach draußen strömen. „Nein“, beruhigt der Mann von der DVB, „in die übernächste!“ Unsere Fahrt ist für 15 Uhr angekündigt. Doch auch Sonderfahrten müssen warten, schließlich soll der normale Verkehr weiterlaufen. Wir befinden uns am Hauptbahnhof. Von hier fahren im 30-Minuten-Takt Straßenbahnen über den Albertplatz und die Marienbrücke zurück zum Bahnhof und bieten jeweils drei Gruppen, bestehend jeweils aus einem Forscher, einem Bürger und einem Mitarbeiter des Zentrums für Integrationsstudien (ZfI) der TU Dresden, Raum für Austausch. „Wir haben 21 Gespräche geplant, bisher haben sich 15 Leute angemeldet. Vielleicht war die Anmeldung zu kompliziert“, erklärt Organisatorin Dr. Karoline Oehme-Jüngling und ergänzt: „Nachmeldungen sind aber vor Ort möglich.“
Auch vor Ort: ein paar bekannte Montagsgänger. Spontan entscheiden die Organisatoren, sie bei der ersten Fahrt unter Aufsicht mitfahren zu lassen. „Im Vordergrund steht, miteinander zu reden. Außerdem haben wir mit dem Projekt auch Kontakt zu kritisch eingestellten Bürgern gesucht“, begründet Oehme-Jüngling.
Das „Bürgergespräch“ bildet den Abschluss des Projektes „Courage – wissen, sehen, handeln!“, das versucht, mit Vorträgen, Workshops und einem Kulturprogramm Studierende, Mitarbeiter und Angehörige der TU Dresden für die Themen Rassismus und Diskriminierung zu sensibilisieren und darüber aufzuklären. Mit dem „Bürgergespräch“ wird der Bogen zur Bevölkerung gespannt. „Wir haben uns bewusst gegen den Begriff Sprechstunde entschieden, um die Hierarchieunterschiede zwischen den universitären Experten und den Bürgern, den Experten ihres Alltags, aufzuheben“, erklärt Oehme-Jüngling. Acht Forscher konnte sie für das Projekt gewinnen, darunter Mediziner Gerhard Ehninger, Teilchenphysiker Michael Kobel und Totalitarismus-Forscher Steffen Kailitz. Die meisten von ihnen engagieren sich ehrenamtlich im Bereich Integration.
Bei der Anmeldung waren für jeden Forscher Fragestellungen notiert, eigene Fragen waren willkommen. Auffällig: Mit Makrosoziologin Ina Kraus (Thema: Arbeit) und Anna-Maria Schielicke vom Institut für Kommunikationswissenschaft (Thema: u. a. Fake-News) berührten nur zwei Forscher das Alltagsleben der Menschen. Auch von der Fakultät für Architektur war kein Gesprächspartner anwesend, obwohl die Schaffung gemeinsamer Räume und die Veränderung von Vierteln einen wichtigen Beitrag zum (Zusammen-)Leben der Menschen leisten. Oehme-Jüngling begründet das damit, dass Architektur auf der Liste stand, aber nicht so weit oben wie andere Themen.
In der Praxis funktioniert das Konzept: Verteilt auf den ersten und zweiten Wagen sitzen Steffen Kailitz und Ina Kraus, ihnen gegenüber jeweils ein Bürger und daneben, fast unmerklich, ein Beobachter mit Aufnahmegerät und Stift. Die Aufzeichnungen werden für die Forschung verwendet und später in Auszügen anonym veröffentlicht. „Welche Möglichkeiten hat mein Kind nach der Schule? Wie hat sich der Arbeitsmarkt bis dahin verändert?“, möchte eine Bürgerin von Ina Kraus wissen. Diese blickt nach vorn und überlegt. Man merkt: Obwohl sich die beiden erst kurz kennen, entsteht Intimität.
Ähnlich vertraut sieht es bei Steffen Kailitz aus. Angeregt diskutiert er mit Bürger Marcus Oertel über die Rolle der Geschichte in der Gesellschaft. Wie kommunizieren wir über Vergangenheit? Welche Folgen hat das? Oertel, der an der TU Geschichte und Kommunikationswissenschaften studiert hat, sagt, er wollte schon immer mit einem Totalitarismusforscher reden. Und tatsächlich entwickelt sich zwischen den beiden ein Gespräch auf Augenhöhe.
Wir fahren ruckelnd wieder am Hauptbahnhof ein und treten in die Kälte hinaus. Während die nächste Gruppe einströmt, gehen draußen die Gespräche weiter. Die Montagsgänger mischen sich darunter, reden, diskutieren, auch Mitarbeiter des Zentrums für Integrationsstudien stehen bereit.
Was nimmt Marcus Oertel von der Fahrt mit? „Dass es keine Patentlösung gibt“, erzählt er und bedauert: „Es war zu kurz. Ich hätte noch mal eine halbe Stunde reden können.“
Text: Vivian Herzog
Zum Foto: Ann-Kathrin Kobelt vom ZfI, Steffen Kailitz und Marcus Oertel (v. l.).
Foto: Amac Garbe