Jeder Mensch kennt ihn wohl: den abschätzenden Blick in den Spiegel. Sind Pickel über Nacht aus ihren Löchern gekrochen? Haben Falten tiefe Täler gegraben? Haben Kalorien nachts wieder die Klamotten enger genäht? Steht ein Date oder gar sexuelle Begegnung an, werden die Blicke noch kritischer. Und der Mensch verschlossener. Denn die eigenen sexuellen Wünsche zu äußern, ist ein ebenso zugenageltes Buch wie die Erkenntnis, dass Mensch so in Ordnung ist, wie er ist.
Sophie Hydes Dramedy „Meine Stunden mit Leo“ kann da wie eine Therapiestunde wirken – mit der berauschenden Wirkung eines Cocktailabends. Denn der Film aus der Feder der britischen Komödiantin Katy Brand verbindet Empowerment und Frauenpower mit einer ordentlichen Prise Humor.
Pensionierte Lehrerin trifft auf Sexarbeiter
In einem gar nicht schäbigen Hotelzimmer treffen wir auf die pensionierte Lehrerin Nancy, deren Mann vor einer Weile verstorben ist. Sie hat den jungen Sexarbeiter Leo Grande zu sich bestellt und will ein paar Praktiken ausprobieren, die ihr in der Ehe verwehrt blieben. Doch als der attraktive Leo auf der Matte steht, verlässt Nancy die eigene Courage und sie zweifelt nicht nur an ihrem Vorhaben, sondern auch an sich selbst. Die Rechnung hat sie allerdings ohne den wortgewandten Leo gemacht, der nicht nur zum Anbeißen aussieht, sondern auch inhaltlich einiges zum Thema beizutragen hat. Nancy kommt er wie ein Sexheiliger vor. Und während die beiden Nancys Grenzen verschieben, werden auch Leos angekratzt.
Den Filmemacher:innen rund um die australische Regisseurin Hyde und Drehbuchautorin Brand ist eine gute Balance zwischen Drama und Komödie gelungen, wobei die ernsten Themen der sexuellen Befreiung und der Selbstakzeptanz mit viel Wortwitz gepaart werden. Dass das funktioniert, dazu tragen auch die beiden Hauptdarsteller:innen bei. Mit dem Iren Daryl McCormack scheint ein neuer Leinwandliebling gefunden und Emma Thompson macht ihrem Ruf alle Ehre. Doch vor allem die letzte Szene ist der 63-jährigen Britin hoch anzurechnen – so etwas habe sie vor der Kamera noch nie getan, sagte sie bei der Berlinale im Februar. Nicht nur deswegen absolut sehenswert.
Text: Nadine Faust
Foto: Leo (Daryl McCormack) und Nancy (Emma Thompson) loten die Möglichkeiten ihrer sexuellen Begegnung aus. © Wild Bunch Germany