Vom Lampenschein im Weihnachtsheim

Es ist Mittwoch, zwei Wochen vor Weihnachten. Die Stadt ist im Prä-Shutdown. Noch wirkt alles wie immer, überschlagen sich nicht Radio- und Fernsehsender mit Meldungen, welche Regeln in welcher Stadt, welchem Land oder Bundesland verschärft werden, verschärft werden könnten, jegliche Schärfe aus Konflikten nehmen. Denn wer hat noch Zeit zu streiten, wenn Weihnachtsgeschenke bald nur noch auf dem Schwarzmarkt erhältlich sind? Es ist Mittwoch, die Ruhe vor dem Sturm. Ich bin müde von der Arbeit und habe keine Lust auf etwas anderes als einen kanadischen Krimi mit zwei Kommissaren, die sich nicht hassen, als mir die Anzeige des örtlichen Baumarktes auf Social Media entgegenspringt. Und ich feststelle: Ich brauche einen Weihnachtsbaum. Nicht, weil Weihnachtsbäume zum Christfest gehören wie Kartoffelsalat und Würstchen. Oder weil ich die Weihnachtsbaumindustrie in solch schweren Zeiten unterstützen will. Oder Dekorieren als neue Kunstform entdeckt habe. Nein, der Baum macht mich glücklich. Denn Weihnachten hat sich verändert.

Als ich ein kleines Kind war, war Weihnachten magisch. Weniger die Kinderlieder-CDs, die immer klangen, als würde man ein ganzes Krippenspiel mit einem Fuchsschwanz in kleine Teilchen sägen. Sondern wegen des Schnees. Neulich fragte mich ein Kunde, ob ich alt genug sei, um noch weiße Weihnachten erlebt zu haben – ja, bin ich. Mit Puderzucker-Optik und Spaziergängen, bei denen man die erste halbe Stunde genoss und sich danach die noch jungen Füße abfror. Schnee, der einen ganz eigenen Geruch hat, frisch und etwas blumig, ein bisschen wie Regen, nur anders. Kein Pulverschnee, sondern leicht feuchter Niederschlag, aus dem man Schneemänner bauen konnte, die nicht auseinanderfielen, wenn man sie anpustete. Und dann der Baum. Die Lichterkette, bei der immer die Lampe quietschte, die man drehte, damit das Licht anging. Der Ofen, bei dem man immer aufpassen musste, dass der Hintern warm wurde, aber die Hände nicht verbrannten. Und das Essen.

Zu Weihnachten hat meine Oma immer gekocht. Ich weiß nicht mehr, was es genau gab, aber meine Oma konnte alles kochen, backen, zusammenschnippeln. Sei es Eintopf mit zartem Fleisch, Schweinebraten, Nudeln mit Soße. Selbst Bohnen und Kopfsalat, was ich nicht gern esse, konnte meine Oma so zubereiten, dass es lecker war. Heute weiß ich, dass meine Oma nicht nur meine Oma war, sondern auch Mutter einer Tochter. Die mit ihr die wohl typische Mischung aus Liebe, Sehnsucht und Entwachsen-Wollen verbindet, die die meisten Kinder mit ihren Eltern verbindet. Meine Oma hatte eine eigene Art zu sprechen. Mit vielen Pausen, immer etwas klagend. Kein breites Sächsisch, aber Dialekt. Ein bisschen wie Satiriker, die versuchen, den motzenden Klischee-Sachsen auf die Bühne zu bringen.

Aber meine Oma war nicht peinlich. Meine Oma war meine Heldin. Sie schaffte es, den Weihnachtsbaum aufzustellen, das Essen zu kochen, den Ofen anzuschmeißen und dann die ganze Familie im Wohnzimmer zu vereinen, egal, wie grün man sich gerade war. Sie vollbrachte, die Zeit anzuhalten, alles mit Glitzerstaub zu bestreuen und Gespräche in Gang zu setzen, die nicht in Disputen endeten, die ansonsten an die Oberfläche traten. Und nebenbei ist meine Oma schuld daran, dass ich davon träume, zu Weihnachten auf einem weißen Pferd durch den Schnee zu reiten und Tannenzapfen von Nadelbäumen zu schießen, so wie Aschenbrödel im Jägerinnen-Kostüm – obwohl ich weder reiten noch mit Gegenständen zielen kann. Aber mit Worten.

Irgendwann passierte meiner Oma das, was jedem passiert: Sie wurde alt. Sie war keine Superheldin, aber sie war eine taffe Frau, die selbstständig wohnte, solange es ging. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Zuerst hatte sie keine Kraft mehr, um das Essen für so viele Leute zu kochen. Und irgendwann konnte sie sogar ihren Alltag nicht mehr ohne Hilfe bewältigen. Sie entschied selbst, in ein Pflegeheim zu gehen. Meine Familie hatte sich inzwischen so weit voneinander entfernt, dass weder eine alte Frau noch irgendein Weihnachtbaum sie zusammenbringen konnte. Als meine Oma schließlich starb, war Weihnachten völlig vorbei. Als hätte sie über die Jahre die Energie aufgebraucht, die notwendig war, um so viele kleine Wunder gleichzeitig zu bewirken.

Seit meine Oma tot ist, ist Weihnachten anders. Egal, wie viele Weihnachtslieder ich höre, wie viele Pfefferkuchen ich esse und wie viele Räucherkerzchen ich anzünde. Und egal, wie meine kleine Familie versucht hat, die Magie zu erhalten.

Ich habe versucht, das zu kompensieren. Ich habe mich in die Stadt gestürzt, mich am Glühweingeruch, gemischt mit Pilzpfanne, berauscht. Habe Leute betrachtet, die glücklich Geschenke kaufen und komische Mützen tragen. Habe mich unter die riesige Tanne auf dem Altmarkt gestellt und mich gefühlt, als würde ich unter einem Sternenregen stehen.

Und jetzt der Shutdown. Komplexe Regeln, deren Lösung darin besteht, lieber allein oder zu zweit zu feiern. Und anstatt sich auf die Familie zu besinnen und das, was man aneinander hat, besinne ich mich darauf, wie lange ich nicht mehr in einem Club, einem Konzert oder im Theater war. Mein letzter Besuch Ende Oktober war eine spontane Entscheidung, die sich als glücklich erwies. Wie lange ich schon das Getümmel, die Unbeschwertheit vermisse. Wie oft ich mich nach dem Grundrauschen in der Neustadt sehne oder mir Abende zurückwünsche, an denen ich um 9 losging, in den Studentenclub meiner Wahl, und zwei Stunden später über Granitsteinplatten schwebte, weil ich beseelt war von den Gesprächen. Wie oft ich daran denke, wie es Freunden geht, die diese Wochen nicht mittelgut, sondern schwer ertragen können, weil die Einsamkeit so groß ist.

Weihnachten hat sein Glitzern verloren. Und auch wenn noch ein bisschen Magie durch die Straßen weht, hat sich viel verändert. Bei mir, und in der Welt. Und um dieses Chaos anzuhalten, brauche ich den Weihnachtsbaum. Ich brauche eine Lichterkette mit warmem Licht, auch wenn sie nicht mehr quietscht, weil sie LED-Lämpchen hat. Ich brauche Christbaumkugeln und daneben ein Räuchermännchen. Und ich brauche den Baum, auch wenn er aus Plastik ist, aber nadelt wie ein echter. Dessen Asymmetrie mancher Friseur als neue Trendfrisur sehen würde. Der dasteht, und leuchtet. Solange, bis ich meinem Freund sein Geschenk, das wohl am 29. vollständig geliefert sein wird, unter den Baum lege und mich freue, wenn er es auspackt. Mein Baum ist für mich der Zauberstab, der die Besinnlichkeit anknipst.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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