Hair-History

Es ist ein sonniger Samstagabend im August. Die Grillen zirpen, die Pärchen flirten und die Polizei fährt gemütlich ihre Runde im Großen Garten. Mein Partner und ich haben es uns nach erfolgreicher Nahrungsaufnahme beim Schnellrestaurant unseres Vertrauens auf einer Bank gemütlich gemacht und lümmeln der untergehenden Sonne entgegen. Plötzlich zeigt er irritiert auf meine Beine. „Du hast ja Haare!“, stößt er aus und ich kann förmlich sehen, wie die kleine Fee im Einhornkostüm über eine Klippe springt. Nach vier Jahren, unzähligen intimen Momenten körperlicher und emotionaler Natur und einer chaotischen Fahrt nach Straßburg fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Ich habe Haare. Sie ziehen sich bedrohlich von meinem Knöchel hoch zum Knie, machen dort eine kurze Verschnaufpause, stolpern unmerklich über die Oberschenkel und münden in meinem Schamdreieck. Von dort aus geht es weiter über den Bauch und die Arme mit Achseln bis zur Nase, den Augenbrauen und dem Scheitel. Der Damenbart lässt auf sich warten, aber ein leichter Flaum unter den Wangen ist festzustellen. Ich habe Haare. Und sie sind mit mir gewachsen.

Sehr lange hat mir das gar nichts ausgemacht. Sie waren einfach da. Als junger Teenager, mit 15, dachte ich, dass damit das Zeitalter der Glücksbärchis vorbei sei und ich nun endlich erwachsen genug war, um Boybands hinterherzuschmachten und selbst über meine Haarfarbe zu bestimmen. Als alter Teenager, mit 17, habe ich sie entfernt, besonders an den Beinen, weil man das so macht. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob das einen Sinn hat oder eher Unsinn ist. Ich dachte, dass das Leute in meinem Alter einfach tun. Ich fand das eigentlich unangenehm – Rasierer sorgen für Pickelchen, wirklich weg bekommt man sie nie und um das Kraterfeld namens Knie haarfrei zu bekommen, brauchte ich eine zweitägige Schulung. Enthaarungscreme reizt die Haut und das Kratzen eines Plastikspatels auf trockener Haut gleicht dem Geräusch von Nägeln auf einer Tafel.

In meinen Zwanzigern setzte ich mich intensiv mit meinen Achseln auseinander – oder besser: mein Umfeld. Denn auch wenn die Haare biologisch dazu gedacht sind, Lockstoffe zu Paarungspartnern zu tragen, will nicht jeder von mir beduftet werden. Leider war meinem Umfeld der Unterschied zwischen Körper und Charakter nicht bewusst. Meine Achselhaare wurden zum biologischen Kampfstoff, mit dem ich mutwillig meine Mitmenschen terrorisierte und soziale Kontakte dem Erdboden gleichmachte. Für mich war das im wahrsten Sinne des Wortes mit Scham behaftet. Das Gefühl, dass ich meinen Körper ganz ok finde – aber andere mich mit ihm nicht ok finden. Es hat einer Mischung aus einem guten Deo und Selbstakzeptanz bedurft, damit ich einen Kompromiss finde. Wenn ein wichtiges Event mit fremden Leuten ansteht, dann weicht mein kleiner Wald dem gesellschaftlichen Status. Es ist ok, es wächst ja nach. Aber im Alltag bleibt immer die Frage, wie viel ich geschwitzt habe, wie lang meine Haare sind und wo das nächste Deo ist.

Ein weiterer prägender Moment fand nach einem Date statt. Genauer gesagt: eine Woche danach. Er war der erste Mann nach einer langen Pause und ich war ziemlich unerfahren. Wir hatten uns gemütlich von einem Körperteil zum nächsten getastet und irgendwann bewässerten unsere Körperflüssigkeiten eine kleine Pflanze namens Koitus. Nachdem wir wieder zu Atem gekommen waren, ging jeder seines Weges; ich in meine Wohnung, er in sein Hotelzimmer. Den Statuten gemäß beglückwünschten wir uns per Chat zu einem schönen Abend, nickten uns digital zu und waren auf dem Sprung in ein Leben ohneeinander. Bis er nachschob: „Aber du hättest dich wenigstens rasieren können!“

Ich war verblüfft. Und traurig. Obwohl meine erste und richtige Reaktion Wut war, habe ich mich geschämt. Ich war nicht ok. Weil ich es habe wachsen lassen. Weil ich zu blind und zu taub war, die Botschaft hinter seinen tastenden Händen zu erkennen. Ich hätte doch an seiner Art zu küssen merken müssen, dass ich nicht in Ordnung war. War mir der dunkle Fleck in seinen feucht-glänzenden Augen wirklich entgangen, der doch eindeutig sagte „Haare weg, sofort!“? Ich wusste tagelang nicht, was ich davon halten sollte. Und dann fasste ich den Mut, ihm das so zu sagen. Dass es mich verletzte, dass er das erwähnte, wenn doch alles vorbei sei. Dass es mich demütigte. Und dass er die Wahl gehabt und sie mir überlassen hat und mich dann dafür tadelte. Gemeinschaft hört also dort auf, wo Angst beginnt. Die Angst, den Abend allein zu verbringen. Die Angst, für seine Kritik die Verantwortung zu tragen. Die Angst, nicht gut genug auszusehen. Mittlerweile sind wir in den Dreißigern und gute Freunde. Aber ich habe damals für mich entschieden: Wer mich will, bekommt das Paket. Und kann entscheiden, ob er mich genau so nimmt oder sich einen anderen Partner sucht, der genauso schön und klug ist, aber keine Haare hat. Es ist in Ordnung, einem Schönheitsideal zu folgen, aber wir sollten keinem vorwerfen, wenn er dem nicht entspricht.

Haare sind nicht kompromisslos geil. Wenn man sie nicht wunschgemäß pflegt, verfitzen sie sich oder es entsteht ein kleines Biotop, in dem sich nach einiger Zeit wohl tausende neuer Arten entwickeln würden. Haare können sich an Haut auf- und Klamotten kaputtreiben. Haare sind warm – im Winter genau richtig, im Sommer genau nicht richtig.

Seit meiner Hair-History sind viele Jahre vergangen. Stars haben sich die Schamhaare gefärbt, Periodenblut inszeniert und manch einer greift zum Schamhaar-Toupet. Haare sind für manche Mitmenschen eine große Sache. Positiv und negativ. Und die Tatsache, dass es mir immer noch schwerfällt, darüber zu schreiben, zeigt, wie weit wir noch gehen müssen.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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