Laufen lassen

Es kratzt. Es klopft und trommelt. Der Kopf fühlt sich an, als würde man ein Minzbonbon in eine Flasche Cola werfen, und die Nase läuft den Marathon ihres Lebens. Es ist Erkältungszeit und mich hat es erwischt. Gestern ging es mir noch gut, heute habe ich Halsschmerzen und sehe tapfer meinem Ende entgegen – ausgerutscht auf einer Pfütze aus Rotze und Ingwertee. Und während ich dem körperlichen Verfall auch den geistigen in Form einer Scripted Reality folgen lasse, suche ich krampfhaft nach dem Übeltäter. Schniefnasen auf der Straße umgehe ich großzügig, Mitmenschen in der Bahn gucke ich fies an und Schulbusse, die Keimzellen der Keime und Kaktusse, meide ich. Meine Kollegen habe ich schon zur Sommergrippe-Saison erfolgreich darauf konditioniert, in meiner Gegenwart weder zu niesen noch zu schniefen und schon beim kleinsten Halskratzen nur noch per Mail oder Morsezeichen zu kommunizieren. Auch das Händeschütteln und Freundschaftsknuddeln habe ich mir abgewöhnt, auch wenn das für manche als unhöflich gilt. Nachdem so mein halbes soziales Umfeld als Täter wegfällt und ich überprüft habe, ob mein Freund wirklich auf einer Konferenz in Gießen ist und nicht heimlich in meinem Bettchen geschlafen hat, kommt nur noch einer in Frage: der Weihnachtsmann. Also nicht der Weihnachtsmann, sondern der Mann, der mit mir auf dem Weihnachtsmarkt war und aus dessen Tasse ich versucht habe, den Charme von Marzipan-Punsch herauszuschmecken. Das hat nicht geklappt, das Zeug ist die dreifache Potenz eines in Honig getränkten Zuckerwürfels, aber andere Dinge haben wie am Schnürchen funktioniert.

Und jetzt liege ich frustriert im Bett und ärgere mich. Dass mein Körper, der vorher perfekt wie ein Uhrwerk vor sich hin ratterte, plötzlich zum Nervzwerg mutiert ist, der ständig neue Bedürfnisse entdeckt. Essen, trinken, Nase putzen, noch mehr Nase putzen, Kopfschmerzen, Schuldgefühle, weil ich nicht auf Arbeit kommen kann, Selbstmitleid, weil alles doof ist. Und wieder Nase putzen.

Warum hat es die Natur so eingerichtet, dass wir ausgerechnet im Winter, wo es ohnehin kalt und ungemütlich ist, krank werden? Ist das das i-Tüpfelchen, damit man die dunkle Jahreszeit noch besser genießen kann? Oder ist alles womöglich eine Verschwörung der Pharma-Industrie, damit wir noch tollere und buntere Erkältungsmedikamente mit Kräutern und Alkohol kaufen? Und mehr Schals!

Wovon ich aber gerade genug habe: Zeit. Auch wenn sich mein Körper nicht gut fühlt, meiner Seele gefällt das. Nicht durchgetaktet nach Zeitplänen laufen, sondern es laufen lassen. Ein paar Minuten länger im Bett bleiben. Peinliche Serien gucken. Sich inmitten der Tee-Orgie eine große Tasse Kaffee kochen, einfach so. Und feststellen, dass sich die Welt weiterdreht, auch wenn man selbst etwas langsamer läuft.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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