Ich habe Chemnitz noch nie so voll gesehen. Nicht mal zu jenem berühmt-berüchtigten Stadtfest, das für mich als Jugendliche früher alljährlich ein Pflichttermin war. Ich komme ursprünglich aus der Nähe von Chemnitz, doch wie die meisten bin ich weggezogen. Momentan wohne ich in Leipzig. Der Zug von dort nach Chemnitz am Nachmittag war so voll, dass die Fenster von innen beschlagen sind. 5.000 Menschen standen Rücken an Rücken, Arm an Arm in den alten Zügen, in denen die Waggons noch einzelne Kabinen haben. In Leipzig mussten mindestens hundert Menschen am Gleis stehen bleiben – sie hatten einfach nicht mehr in den Zug gepasst. Ich habe mich vorgedrängt. Jetzt stehe ich zwischen Plattenbauten und Innenstadt vor einer Bühne in Chemnitz, bei #wirsindmehr.
Es herrscht Festivalstimmung. Ein Café in der Nähe verkauft Bier im Plastikbecher für 2,50 Euro. Ostpreise. Oder Solidarität. Als es losgeht, begrüßt eine Frau die Menge und sagt neben vielen anderen Dingen, dass in Chemnitz in den vergangenen Tagen Menschen durch die Stadt gejagt wurden. Hinter mir ruft jemand verärgert: „Das stimmt nicht. Das stimmt einfach nicht!“ Tatsächlich gibt es seriösen Widerspruch gegen diese Behauptung – unter anderem vom Chefredakteur der Chemnitzer Tageszeitung Freie Presse, der bei den Protesten ebenfalls vor Ort war. Weil auch seine Kollegen die Behauptung von „Hetzjagden“ nicht bestätigen konnten, hat sich die Freie Presse entschieden, diesen Begriff in ihrer Berichterstattung nicht zu verwenden. Als sich eine Aktivistin von Chemnitz Nazifrei auf der Bühne beschwert, dass die Polizei linken Protest als linke Gewalt verurteile, stöhnt neben mir einer: „Heul doch!“ Die Linken seien genauso gewaltbereit wie die Rechten, flüstert er seiner Begleitung auffällig laut ins Ohr.
Ich kenne viele Menschen aus Chemnitz und Umgebung, die zwar nicht mit Pegida und AfD mitlaufen, die Asylpolitik der Regierung aber dennoch kritisch sehen. Doch dieses Mal waren sich zum ersten Mal alle einig: Das, was in den vergangenen Tagen hier passiert ist, darf es so nicht geben. „Die jungen Leute müssen wieder mit der Schule nach Sachsenhausen und Buchenwald fahren wie wir früher“, meint mein Opa. „Wer das gesehen hat, benimmt sich nicht mehr so wie diese Idioten.“
Auffällig oft habe ich in den vergangenen Tagen folgende Beschwerde gehört: „Da kommen tausende Nazis aus ganz Deutschland her und dann heißt es wieder, Chemnitz sei rechts.“ Die Menschen in Chemnitz haben gesehen, dass auch an den anderen Tagen, an denen die Rechten in der Überzahl waren, viele Menschen mit Zug und Bus angereist sind. Klar, Chemnitz hat ein Problem mit Nazis. Vor allem die gewaltbereite Hooliganszene spielt dabei eine große Rolle. Und es fehlt an Menschen, die sich dem entgegenstellen. Trotzdem – es ist nicht nur zum Konzert von #wirsindmehr eine große Zahl von Menschen nach Chemnitz gekommen, sondern auch an den Tagen davor. Nur in kleinerer Zahl. Die Verhältnisse waren einfach andere – wir sind eben wirklich mehr. Es darf nicht vergessen werden, dass die rechten Protestierenden zwar auch, aber nicht nur Chemnitzer waren. Das zeigt sich, leider etwas spät, jetzt. Denn heute ist ein großer Teil der Chemnitzer endlich auf der Straße. Der Teil, der vielleicht politisch eher konservativ eingestellt ist, aber trotzdem für Menschenrechte und Demokratie und gegen Gewalt einsteht. Ich war mir nicht mehr sicher, ob es wirklich ein Großteil der Chemnitzer ist, dem Gleichheit, die Menschenwürde und Gewaltlosigkeit am Herzen liegen. Jetzt bin ich es wieder. Das ist ein gutes Gefühl.
Ähnlich gut wie beim Auftritt der TOTEN HOSEN, als 65.000 Menschen gemeinsam singen: „Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft.“ Da zeigt das Festivalfeeling endlich sein Gutes: Gänsehaut. Dabei kommt der eigentliche Höhepunkt erst noch: DIE TOTEN HOSEN haben Arnim von den BEATSTEAKS und Rod von den ÄRZTEN dabei. Gemeinsam singen sie den ÄRZTE-Song „Schrei nach Liebe“. Begleitet von einem außerordentlich textsicheren Publikum. Und mal ganz ehrlich: Wenn Rod und DIE TOTEN HOSEN gemeinsam einen ÄRZTE-Song singen können, dann sollte der Weltfrieden eigentlich nicht mehr weit weg sein.
Ein „You‘ll never walk alone“ und einen Döner später bleibt nur noch der Müll auf den Straßen zurück, den eine einsame Kehrmaschine entfernt. Und die Chemnitzer, die die nächsten Demonstrationen gegen Rechts alleine stemmen müssen. In kleinerer Zahl dann wahrscheinlich, bestimmt auch mit weniger Festivalstimmung. Davon war zu #wirsindmehr auch ein kleines bisschen zu viel da.
Text: Alisa Sonntag
Foto: Amac Garbe
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