Kunst heilt (k)eine Wunde

Industriebrachenumgestaltung. Klingt etwas sperrig, ist aber eins der international bedeutendsten Festivals für urbane Kunst, wie Kunsthistorikerin und Campusrauschen-Autorin Susanne Magister jüngst an anderer Stelle schrieb. Seit 2006 gibt es ibug nun schon, als Künstler Tasso nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten suchte und sie in der ersten Industriebrache in Meerane fand. Seither streift eine Gruppe von Ehrenamtlichen durch sächsische Lande und kehrt 2023 erstmals in die Großstadt ein. Bis 3. September ist ibug im ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks (RAW) in Leipzig-Engelsdorf zu Gast.

Zunächst begrüßt geneigte Besucher:innen am Kiosk gleich neben dem Eingang ein Schild: „Sonderedition: 2 Spritzer 50+ Sonnencreme sensitiv 0,-“. Denn während das diesjährige ibug-Gelände kurz vor der Eröffnung noch fast absoff, wurde es heiß am Eröffnungswochenende – um nun wieder halb abzusaufen. Doch die Spiegelungen in den Pfützen erhöhen nur den Reiz des Geländes. Über dessen Geschichte klären unregelmäßige Führungen auf dem Gelände auf, über die eigens dort gestaltete Kunst regelmäßige Rundgänge. Außerdem gibt‘s auf der Bühne Livemusik, Podiumsgespräche und Livepainting. Das alles ist in den ermäßigten zehn Euro Eintritt inbegriffen.

Ein Blick in die Vergangenheit

Zunächst kann man auf dem Weg vom Eingang zum Ausstellungsgelände aber erst einmal auf eigene Faust in die „Historie“ schauen. Am Eröffnungswochenende noch verschlossen – es sei eben ein Ehrenamt – sollen dort Dokumente und Fotos, die die Ausstellungsmacher:innen von ehemaligen Angestellten des RAW bekommen haben, sowie Videos mit Interviews von Zeitzeug:innen zu sehen sein.

Rund um den Wasserturm kann man sich dann im Gastrobereich stärken oder rechts ins Kesselhaus abbiegen, das nur wenige Kunstwerke beinhaltet, dafür aber den spannendsten Raum darstellt, denn hier bewegt man sich am Rand der alten Wasserkessel, umgeben von rostigen Treppen, kaputten Sicherungskästen und zig Lagen Staub und Schutt. Hier wird der Ausstellungsbesuch zur Entdeckungsreise, zumal die Kunstwerke bei ibug nicht beschriftet sind. So fällt das Buntglasfenster am Ende des Gangs zunächst kaum auf, leuchtet bei Lichteinfall aber schließlich umso mehr. Gestaltet von Kai Semor aus Köln, wurde es von den Derix Glasstudios, die auch das von Gerhard Richter entworfene Südquerhausfenster des Kölner Doms umgesetzt haben, ausgeführt.

Kleine Kunst in riesigen Hallen

Verteilt über das gesamte Gelände finden sich die „Schmiiniaturen“ von André Schmidt aus Leipzig. 18 der Miniaturen sind auf dem Gelände verteilt, nicht alle sind aufgrund des Sicherheitsbereichs zugänglich. Aber es macht Spaß, nach den Türchen, Stühlchen und Minikommoden Ausschau zu halten. Kleiner Tipp: Türzargen, alte Sicherungskästen und verwinkelte Ecken im Auge behalten!

Eine kleine Kunstrallye kann man auch mit den Stencils von Fritten Freddie aus Hamburg veranstalten. Die Anspielungen auf digitale Überwachung sind auf dem gesamten Gelände zu finden und erinnern stark an Banksy. Nicht nur eine Erinnerung, sondern eine eindeutige Referenz ist Tomas Facios Wandbild „Caballo de Vogelherd“, das sich auf das 40.000 Jahre alte sogenannte Vogelherd-Pferdchen aus dem Lonetal bezieht und ganz am Ende der großen Halle zu finden ist.

Spiel mit dem Gelände

Auf dem Weg dorthin fallen mehrere Kunstwerke von Bisser aus Belgien ins Auge, der sich augenfällig mit der speziellen Örtlichkeit auseinandergesetzt hat. So hat er 41 Kappen alter Sauerstoffflaschen, die er vor Ort vorgefunden hat, als „Bells“ zu einer Art Glockenspiel vereinigt, wobei sich die aufgemalten, grimassenhaften Gesichter auch in der Roboter-Installation „C0113CT0R“ und dem Mural „Metal eaters“ wiederfinden.

Während Albin Flieders Baum-Installation im hinteren Teil der großen Halle mit Photosynthesebelichtung arbeitet und ein Werk über den Verlauf des Festivals entstehen lässt, kehren Rene Meyers Stencils zur klassischen Streetart zurück, wobei er sie einmal in der großen Halle auf Pflastersteinen platziert und ein anderes Mal in einem kleinen Raum hinter der Bar die Vergänglichkeit der Räume aufnimmt. Die Stencils sind dort auf dem noch intakten Putz im oberen Teil zweier Wände angebracht, während der untere Teil, wo der Putz bereits abgefallen ist, jeweils fehlt. Hier wird der Verfall des Geländes offenbar, das Kunstwerk bleibt „unvollendet“.

Kunst als verbindendes Element

In der Nähe dieser „Fragmente“ befinden sich nicht nur die Murals von Tina Chertova aus Georgien, die sich ebenfalls auf die intakten Teile der Wände „beschränkt“, sondern auch ein Nebeneinander der Werke des Russen Nikita Nomerz und der Ukrainerin Ekatia Surgutanova ist möglich. Dies ist wohl auch ein Hauptaugenmerk des Festivals für urbane Kunst: dass Menschen nebeneinander und miteinander arbeiten, die sich sonst vielleicht nicht begegnet wären. Allein das ist schon begrüßenswert.

Die Werke der etwa 80 Künstler:innen und Kollektive sind am morgigen Sonntag sowie vom 1. bis 3. September freitags von 16 bis 20 Uhr, samstags und sonntags von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Die Bühne wird bis 22 Uhr bespielt, der Biergarten ist mitunter länger geöffnet.

Text & Fotos: Nadine Faust

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