Leben ohne Patentrezept

Die Ausstellung „Wir haben kein Rezept“ lädt noch bis zum 5. März zum Nach- und Mitdenken in die Dresdner Motorenhalle ein.

In diesen Tagen hätten wir manchmal gern ein „Patentrezept“: gegen die Ungerechtigkeiten in dieser Welt oder das Kriegsgebaren von Despoten, für den Schutz der Menschen vor Naturkatastrophen oder das Aufhalten des allerorten bedrohlichen Klimawandels. Doch weder die Wissenschaft noch die Wirtschaft oder gar die Politik haben dieses eine allgemeingültige Rezept, die einfache Handlungsanweisung für die vielen komplexen Probleme. Es gibt nur die ergebnisoffene Suche, die Mut und Empathie und vielleicht auch ein Quäntchen Humor erfordert, um aus unzähligen Zutaten immer wieder neue Mischungen zu erzeugen, die die Welt hier und dort ein Stück weit besser machen.

Eine Bank zum Erzählen und Zuhören

Dass die Kunst dabei ein guter Brennspiegel und auch ein interdisziplinäres Verbindungsstück sein kann, zeigen die unterschiedlichen, vielschichtigen Positionen der aktuellen Schau in der Motorenhalle. Sie ist eine Mischung aus Ausstellung, Laboratorium und Möglichkeit der ungeplanten Begegnung.

Letztere war im Rahmen der regelmäßig in der Ausstellung aktivierten „Erzählbank“ möglich. Hier saßen Mitarbeitende des riesa efau zum aufmerksamen Zuhören bereit. Besucher:innen waren eingeladen, Platz zu nehmen, innezuhalten und zu erzählen, was sie beschäftigt, auch vor dem Hintergrund dieser herausfordernden Zeiten.

Die „rezeptfreie“ Mischung der Kunstpositionen mag zunächst etwas irritieren, ist man es doch in den meisten Ausstellungen gewöhnt, mit einer Art rotem Faden als sorgsam gewebtes Rezept eines Kurators oder einer Kuratorin durch selbige geführt zu werden. Fühlt man sich aber in das ergebnisoffene „Eingeständnis des Nichtwissens“ des Kurator:innenduos Denise Ackermann und Frank Eckhardt ein, schaffen es die allermeisten Positionen durchaus, für sich zu stehen und einen jeweils eigenen Fragenhorizont aufzutun.

Hofkunst von heute

Da wäre etwa Oleh Dmytruks Installation „Application“, die auf den ersten Blick einfach nur formschön und altmeisterlich daherkommt. Auf einem schwarzen Tisch stehen elegante Schatullen mit Krokodilhautersatz überzogen, in denen Bestecke mit Korallengriffen (Immitate) liegen. Was wir heute im Grünen Gewölbe und anderen Schatzkammern früherer Herrscher als edle Geschenke und gegenseitige Gunsterweise betrachten können, hat Oleh Dmytruk ins Jetzt übertragen, indem er jeweils ein maßgeschneidertes Bewerbungsschreiben an zumeist autoritäre Herrscher in den Schatullendeckel geklebt hat. In ihnen bewirbt er sich in schmeichlerischem Ton um die Stelle eines Hofkünstlers.

Die frankierten Umschläge am Rande der Installation deuten an, dass diese Bewerbungspakete tatsächlich an ihre jeweiligen Adressaten verschickt werden sollen – und werfen somit die Frage nach der Rolle des Künstlers in der heutigen Zeit auf. Zugleich offenbaren sie einen ironischen Blickwinkel auf das zeitgenössische, unreflektierte Anbiedern mancher Akteur:innen aus Politik und Gesellschaft.

Oleh Dmytruks Installation „Application“
Oleh Dmytruks Installation „Application“

Die Arbeit der Astronomin und Künstlerin Ulrike Kuchner hebt dagegen menschliche Irrtümer und Fehler hervor, indem sie sich technische Mängel von Instrumenten aneignet und neue kreiert. 40 verschieden bedruckte Siebdruckblätter hängen in freier Anordnung als „Data with Empathy” in einem verschwommen spiegelnden Kasten von der Decke. Die streifigen und fleckigen Siebdrucke basieren auf unverarbeiteten Aufnahmen der Raumsonde Cassini, während sie die Saturnringe durchflog.

Jene Daten in ihrer verarbeiteten Form sind die Zutaten für Rezepte, mit der wir unsere Welt wissenschaftlich verstehen, und stehen im krassen Kontrast zu den vielen nicht beweisbaren, kulturellen und religiösen Glaubenssätzen, die sich der Mensch im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte erdacht hat. Jene paradoxe Komponente baut die Künstlerin durch die Verwendung von traditionsreichem Offenbacher Bibelpapier als Träger der Siebdrucke in ihre Arbeit mit hinein.

Ulrike Kuchners „Data with Empathy”
Ulrike Kuchners „Data with Empathy”
Gemüse mit Gesicht

Ähnlich sinnlich zugänglich ist die Arbeit des Künstlers Tobi Keck: „Spiritualizer II (Facility)”. Seine Installation verströmt mit ihren Schraubgläsern und den eingelegten weißen Dingen, aus denen sich fratzenhafte Gesichter und Körper herausschälen, Laborcharakter. Manche Gläser sind ungefüllt, das Ethanol und die Chemiekanister stehen noch bereit. Es wirkt, als sei der Künstler nur kurz abwesend und käme gleich zurück, um weiter daran zu arbeiten. Erst bei näherer Betrachtung entpuppen sich die die eingelegten Wesen als geschnitzte Gemüseteile – eine ironische Hommage an die Fermentiersucht hipper Großstädter:innen oder auch ein Denkanstoß für den Umgang heutiger Museen mit kolonialer Aneignung? Was ist bewahrenswert und was darf nicht ungefragt bewahrt oder vereinnahmt werden? Es darf laut gedacht werden.

Tobi Kecks „Spiritualizer II (Facility)”
Tobi Kecks „Spiritualizer II (Facility)”

15 weitere künstlerische Positionen geben Impulse in unterschiedlichste Richtungen. Die Videoarbeit „Gente Comune” des italienischen Künstlers Filippo Berta aus dem Jahr 2021 (siehe Titelfoto) führt etwa in einer einzigen berührenden Geste die Absurdität menschlicher Abgrenzung im wörtlichen und geographischen Sinne vor Augen. Zehn Minuten lang berühren Menschen aus verschiedensten Grenzgebieten der Welt an bedrohlichen Grenzmauern nacheinander die einzelnen Dornen von Maschendrahtzäunen und versuchen, diese zu zählen. Wie nebenbei wirft diese Unmöglichkeit des Zählens aller Dornen auch die Frage nach den eigenen, unsichtbaren Grenzen in uns allen auf.

Rädertierchen und die Unsterblichkeit

Faszinierend, anspruchsvoll und sinnlich zugleich ist schließlich auch die Installation „Engines of Eternity“, die als transdisziplinäres Kunst- und Wissenschaftsprojekt SEADS (Space Ecologies Art and Design) die biologischen Phänomene des Klonens und der DNA-Reparatur zum Ausgangspunkt nimmt, um die menschliche Begeisterung für kulturelle Unsterblichkeit zu verhandeln. Ausgangspunkt für ihre weltraumbiologische Forschung ist die Untersuchung eines der kleinsten und faszinierendsten Tiere der Welt, des Rädertierchens.

„Engines of Eternity“ von SEADS
„Engines of Eternity“ von SEADS

Einmal vom Allerkleinsten zum ganz Großen und wieder zurück: Ja, „wir haben kein Rezept“, aber wir sind eingeladen, Fragen zu stellen und uns dabei im besten Fall Räume zum Denken und Handeln zu eröffnen.

Bis 5. März in der Motorenhalle des riesa efau Dresden (Wachsbleichstraße 4a) zu sehen: Mi, Do & Fr 15 – 19 Uhr, Sa & So 14 – 18 Uhr. Letzte „rezeptfreie“ Ausstellungsführung mit Kurator Frank Eckhardt am 4. März, 16 Uhr.

Text & Fotos: Susanne Magister

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