Es dämmert über den Dächern von Paris. Umbruchsstimmung liegt in der Luft. Es ist der 10. Mai 1981 und der langjährige Präsident Valéry Giscard d’Estaing verliert die Präsidentschaftswahl gegen den Sozialisten François Mitterrand.
Zwischen Nacht, Radio und Familie
Langsam tauchen die ersten Sonnenstrahlen die Wohnung von Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) in weiches Licht. Auch in ihrem Leben stehen Veränderungen an. Mit dem Ende ihrer Ehe muss sie nun allein für ihre Kinder im Teenageralter sorgen. Als Nachtschwärmerin findet sie schon bald einen Job in der Radiosendung „Passagiere der Nacht“. Dort trifft sie auf die achtzehnjährige, von zu Hause weggelaufene und jetzt obdachlose Talulah (Noée Abita). Élisabeth beschließt, sich ihrer anzunehmen und sie bei sich wohnen zu lassen.
Eine neue Dynamik und Energie durchzieht fortan die zusammengewürfelte Familie. Talulahs Freigeist steckt auch Matthias (Quito Rayon Richter), Élisabeths Sohn, an. Wenn die beiden im nächtlichen Paris mit dem Motoroller durch die leeren Straßen fahren, auf dem Dach sitzend über die Stadt blicken, sich ins Kino schleichen, um den neusten Rohmer zu sehen, oder erste gemeinsame Gefühlserweckungen teilen, kann man nicht anders, als sich dem Strom aus Wärme und Melancholie hinzugeben.
Im Strudel der gemäßigten Nostalgie
Regisseur Mikhaël Hers schafft es dabei, das Gefühl der achtziger Jahre wieder aufleben zu lassen, ohne dabei einen übermäßigen Zwang an Nostalgie loszutreten. Die Figuren des Films sind vielschichtig gezeichnet und strahlen im Umgang miteinander eine wohlige Wärme aus, die sich auch nach dem Verlassen des Kinosaals fortsetzt.
Nicht nur die großartige Charlotte Gainsbourg („Melancholia“, „Nymphomaniac“) brilliert in ihrer Rolle, sondern auch Emmanuelle Béart („Mission: Impossible“, „La Belle Noiseuse“) als verrauchte Radiomoderatorin überzeugt auf ganzer Linie. Da möchte man am liebsten selbst zum Passagier der Nacht werden und im Meer aus Licht und Dunkelheit der Stadt versinken.
Auch der Score von Anton Sanko, der bereits Hers Film „Amanda“ orchestrierte, lädt zum verträumten Hinfortschweben ein. Zwischen samtig weichen Synthesizern, aufstrebenden Streichern und warmen Bläsern verschmelzen Bild und Score zu einer Einheit. Die Körnigkeit der analogen Bilder von Hauskameramann Sébastien Buchmann tragen, kombiniert mit Found-Footage-Aufnahmen, zur Atmosphäre bei.
Hoch oben in der Wohnung von Élisabeth, in einem Hochhaus der siebziger Jahre des Arrondissement de Vaugirard, scheint die Welt in Ordnung zu sein. „Les passagers de la nuit“, wie der Film im französischen Original heißt, ist feinfühlig, nie zu dick aufgetragen und eine Verzauberung durch und durch. Ein Film für alle melancholischen Nachtschwärmenden und die, die es noch werden wollen.
Text: Philipp Hechtfisch/Kino im Kasten
Zum Foto: Neu gewonnenes Glück über den Dächern von Paris. (c) 2021 Nord-Ouest Films, Arte France Cinema
Hallo Philipp Hechtfisch, so wie du den Film beschreibst, bekommt “man” Lust auf die Zeit im Kino. Sehr schöne bildliche Beschreibungen.
Danke für die wiedergegebenen Impressionen.