Filmtipp des Monats: Das Glücksrad

Ryusuke Hamaguchi ist der neue Regie-Star des japanischen Kinos. Nachdem bereits 2015 sein fünfstündiger Mammutfilm „Happy Hour“ gefeiert wurde, hatte er im vergangenen Jahr mit „Drive My Car“ seinen internationalen Durchbruch. In Cannes wurde jener Film mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet und bei den Oscars gewann er als Bester Internationaler Film. Vollkommen zu Recht, schließlich handelte es sich bei „Drive My Car“ um einen der herausragendsten Filme des Jahres 2021.

Nun startet endlich Hamaguchis neuer Film „Das Glücksrad“ in den deutschen Kinos. Wobei „neuer Film“ eigentlich nicht ganz korrekt ist. Schließlich wurde er nicht nur vor „Drive My Car“ gedreht, sondern hatte seine Premiere auch einige Monate früher auf dem Buenos Aires Festival und bereits den Großen Preis der Berlinale-Jury in der Tasche, bevor „Drive My Car“ in Cannes präsentiert wurde. Dass „Das Glücksrad“ erst jetzt, fast anderthalb Jahre nach seiner Festivalpremiere, in den Kinos startet, ist kaum nachvollziehbar. Schließlich ist auch dieser Film sehr gelungen und zeigt viele von Hamaguchis Qualitäten.

Geschichten von Zufall und Vorstellungskraft

Anders als bei „Drive My Car“ handelt es sich diesmal jedoch nicht um eine langsam erzählte, dreistündige Charakterstudie, sondern um eine Anthologie von drei Kurzfilmen mit einer Länge von 35 bis 45 Minuten. Eine Geschichte handelt von einem jungen Model, welches erfährt, dass ihre beste Freundin einen neuen Partner hat, woraus sich eine unerwartete Dreiecksbeziehung entwickelt. Eine weitere von einer älteren Studentin, welche versucht, ihren ehemaligen Dozenten durch das Vorlesen einer erotischen Textpassage aus seinem jüngst preisgekrönten Roman zu verführen. Die letzte Geschichte handelt schließlich von einer unerwarteten Begegnung zweier Schulfreundinnen, welche sich aus den Augen verloren hatten. Kein Wunder in einer Welt, welche nach einem verheerenden Computervirus wieder komplett offline ist.

Im direkten Vergleich zu „Drive My Car“ fallen zunächst die Unterschiede ins Auge. Nicht nur, dass der Film kürzer ist und als Kurzfilmsammlung daherkommt. Er ist auch thematisch deutlich leichter. Während Hamaguchis Oscar-Gewinner Trauerbewältigung und Verlust vor dem Hintergrund einer Theateraufführung in ausschweifender Länge abhandelt, handeln die Geschichten in „Das Glücksrad“ von diversen Facetten der Liebe. Von Eifersucht, Liebeskummer und Einsamkeit, aber auch von Leidenschaft und Glück. Und eben, wie es der japanische Originaltitel „Gūzen to sōzō“ beschreibt, von Zufall und Vorstellungskraft.

Die Geschichten sind dabei nur thematisch verknüpft, die Handlungen selbst überschneiden sich nicht und auch eine Rahmenhandlung gibt es nicht. Das mag eventuell etwas spröde und schmucklos wirken, die einzelnen Kurzgeschichten sind jedoch so gut geschrieben, raffiniert konstruiert und hervorragend gespielt, dass das kaum ins Gewicht fällt. So hat jede der Handlungen mindestens eine überraschende Wendung zu bieten, welche das Gesehene und die Charaktere in einen neuen Kontext setzt und das Publikum umdenken lässt.

Ein Film für Freund:innen des leisen Kinos

Man sollte allerdings anmerken, dass sich „Das Glücksrad“ definitiv eher an ein programmkinoaffines Publikum richtet. Die Inszenierung ist sehr reduziert, die einzige Filmmusik sind kurze Klavierpassagen aus Robert Schumanns „Kinderszenen“, welche die Episoden einleiten und beenden, und auch visuell ist der Film aufs Nötigste heruntergebrochen. Die einzelnen Episoden bestehen meist nur aus wenigen Szenen, in welchen die Charaktere in langen, ungeschnittenen Einstellungen dialogreich ihr Innenleben offenbaren. So gibt es gleich zu Beginn eine Autofahrt mit einer siebenminütigen, statischen Kameraeinstellung, welche nur durch die Dialoge und das Schauspiel der beiden Darstellerinnen getragen wird.

Hier lassen sich also durchaus Parallelen feststellen zu Hamaguchis nachfolgendem Film. Ein Unterschied ist hingegen, dass „Das Glücksrad“ auch einigen Humor enthält, vor allem durch die unerwarteten Wendungen, welche die verschiedenen Kurzgeschichten nehmen. In der mittleren Episode gibt es sogar einen kurzen Abstecher in die Metafiktion, wenn der Buchautor nach der Bedeutung der erotischen Textpassage gefragt wird: Sie sei bewusst in der Mitte seines Werkes platziert, um die Leser:innen bei Laune zu halten. Eine Dialogzeile, welche fast genau nach der Hälfte des Filmes fällt.

Schließlich wartet der Film dann noch mit einem wundervollen Ende auf, welches an Wärme und Herzlichkeit kaum zu übertreffen ist. Ein rundum gelungener Film für Freund:innen des dialogreichen Arthousekinos.

Text: Lukas Stracke/Kino im Kasten

Foto: Eine überraschende Begegnung nach langer Zeit: Natsuko (Fusako Urabe) und Aya (Aoba Kawai) hätten sich fast nicht wiedererkannt. © Film Kino Text

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