Angst, Scham, Gewalt – das sind nur einige Gründe, warum Frauen sich im Internet Medikamente bestellen und sie heimlich zu Hause schlucken.
„Das Problem ist mein Partner. Wir leben und arbeiten zusammen. Ich kann nicht zu einer Beratungsstelle oder einer Arztpraxis fahren, ohne dass er es bemerken würde. Ich habe Angst, dass er mich dann schlägt oder mich wieder gegen die Möbel schubst. Ich würde meine Schwangerschaft ja anders abbrechen, aber ich kann nichts tun, ohne dass er es bemerkt.“
Diese Sätze schreibt eine ungewollt Schwangere in einer E-Mail. Sie will etwas tun, das in Deutschland verboten ist: Sich Tabletten für einen Schwangerschaftsabbruch im Internet bestellen und sie heimlich einnehmen.
In manchen Situationen finden Frauen keine legalen Wege, eine Schwangerschaft abzubrechen. Das kann zu gefährlichen Situationen führen. In den USA etwa sind Fälle aus den vergangenen Jahren bekannt, in denen Frauen versuchten, Bleichmittel zu trinken oder den Draht eines Kleiderbügels in sich einzuführen. Ein sicherer Weg, eine Schwangerschaft vorzeitig zu beenden, sind Medikamente. Die Organisation Women on Web verschickt die Tabletten für einen medikamentösen Abbruch an Betroffene in der ganzen Welt – auch nach Deutschland.
Women on Web hat systematisch ausgewertet, warum Frauen sich an die Organisation wenden. Im Fachblatt BMJ Sexual and Reproductive Health veröffentlichte sie die Ergebnisse in einer Studie. Im vergangenen Jahr bekam die Organisation allein in Deutschland mehr als 2.000 Hilfsanfragen. Das heißt: Jeden Tag bitten im Durchschnitt mindestens fünf bis sechs Frauen um Pillen, die ihre Schwangerschaft illegal abbrechen. Und das sind nur jene Frauen, die Women on Web gezählt hat. In Wirklichkeit sind es vermutlich mehr.
Große Versorgungslücken in Deutschland
Nach aktuellem deutschen Recht sind alle Schwangerschaftsabbrüche illegal. Doch wenn man bestimmte Bedingungen beachtet, bleibt ein Abbruch straffrei. Ungewollt Schwangere haben allerdings nicht immer die Möglichkeit, all diese Voraussetzungen einzuhalten. Darum begann Women on Web 2019, Abtreibungspillen an deutsche Adressen zu schicken. Innerhalb einiger Monate kamen so viele Anfragen, dass die Aktivistinnen beschlossen zu bleiben. Bei den Briefkästen, in denen die Pillen landen, wohnen Frauen, die E-Mails wie diese schreiben: „Ich bekomme keinen Termin bei einer Ärztin. Ich kann auch nicht Hunderte Kilometer fahren und wochenlang warten. Ich muss mich um meine Kinder kümmern und zur Arbeit gehen. Die nächste Klinik, die Schwangerschaften abbricht, ist zwei Stunden weit weg. Wie soll ich das machen? Wie soll ich dahin kommen? Wo soll ich meine Kinder während des Eingriffs lassen?“
Sophie arbeitet in Deutschland für Women on Web. In diesem Text soll nur ihr Vorname erwähnt werden. Sie hat schon einmal ein Interview gegeben. Danach zeigte ein Abtreibungsgegner sie an. Dass der Bundestag den Paragraph 219a aus dem Strafgesetzbuch verbannt hat, gibt ihr mehr Rechtssicherheit. Und wahrscheinlich könnte dieser Text auch nicht so erscheinen, stünde Paragraph 219a noch im Strafgesetzbuch. Denn dieses Gesetz verbot es, öffentlich und detailliert Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zu verbreiten. Tat man es dennoch, drohten Geldstrafen oder bis zu zwei Jahre Gefängnis.
Sophie sagt, ihr sei klar, dass sie sich mit ihrer Arbeit in Gefahr begibt und sich strafbar macht: „Manchmal ist das Gesetz nicht die höchste Instanz.“ Moralisch hält sie ihr Handeln für richtig. „Ich setze mich für sichere Schwangerschaftsabbrüche ein und das ist gut.“ Denn die Versorgungslage in Deutschland sei eine Katastrophe, sagt sie. Offizielle Zahlen geben ihr Recht: Heute gibt es nur noch halb so viele Ärzt:innen und Kliniken, die Abbrüche vornehmen, wie vor etwa 20 Jahren. „Das hängt mit der Gesetzgebung und der Stigmatisierung dahinter zusammen“, sagt Sophie.
Jeder Arzt und jede Ärztin kann eine Operation oder ein Rezept für Abtreibungspillen aus Gewissensgründen verweigern. Je mehr Ärzt:innen das tun, desto länger suchen ungewollt Schwangere und desto weiter müssen sie fahren, insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg. Ganz anders ist es in Kanada. Dort können Frauen seit 2017 die Pillen für Abbrüche in Apotheken kaufen. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ging seitdem sogar leicht zurück. Studien zeigen: Ein besserer Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen führt nicht dazu, dass mehr Menschen diese Möglichkeit nutzen. Aber es führt dazu, dass sie von gesundheitsschädigenden Methoden ablassen und weniger Frauen sterben.
Illegale Abbrüche kosten weniger
Das Statistische Bundesamt hat im vergangenen Jahr rund 95.000 offizielle Abbrüche gezählt. Die meisten Frauen hatten schon mindestens ein Kind. Die Zahl der offiziellen Schwangerschaftsabbrüche nahm in den vergangenen Jahren ab. Women on Web erhalte hingegen mehr Zulauf, erzählt Sophie im Gespräch mit VICE. „Im letzten Dreivierteljahr haben wir deutlich mehr Mails bekommen“, sagt sie. Die Organisation werde bekannter in Deutschland, mutmaßt Sophie. „Inzwischen gehören ungewollt Schwangere einer Generation an, für die es normal ist, im Internet nach Lösungen zu suchen.“
Auch Geldsorgen treiben ungewollt Schwangere in die Illegalität. In E-Mails an Women on Web berichten Frauen, dass sie sich einen Abbruch nicht leisten können. Schwangere müssen ihre Abbrüche in Deutschland selbst bezahlen. Das kostet zwischen 200 und 700 Euro – je nach Methode. Nur wer weniger als 1.325 Euro im Monat zur Verfügung hat, kann bei der Krankenkasse eine Kostenübernahme beantragen. Ob jemand eine Schwangerschaft problemlos abbrechen kann, ist auch eine soziale Frage. Reichen gelingt es leichter als Armen.
Women on Web bittet Betroffene um Spenden. Die Organisation fragt nach 70 bis 120 Euro. „Aber wir verwehren keiner Person den Service, weil sie nicht spenden kann“, sagt Sophie.
Gründe für illegale Abbrüche: sexuelle Übergriffe und Scham
Regelmäßig wenden sich Frauen an Women on Web, die sexuelle Übergriffe erlebt haben. Nach der offiziellen Statistik haben im vergangenen Jahr 0,05 Prozent der Frauen wegen einer Vergewaltigung eine Schwangerschaft abgebrochen. Bei Women on Web machen Betroffene sexueller Übergriffe einen Anteil von 6 Prozent aus. Sie schreiben Mails wie diese: „Ich wurde vergewaltigt. Ich lebe in Deutschland, aber ich kann nicht offiziell meine Schwangerschaft abbrechen. Wenn mich jemand sehen würde, wäre das eine Katastrophe. Meiner Familie kann ich davon nicht erzählen, das würde alles nur schlimmer machen. Sie würden mir nicht glauben.“
Noch immer klebt ein Stigma an Menschen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Der deutsche Staat übt mit seinen Gesetzen Macht über weibliche Körper aus und schränkt ihre reproduktiven Rechte ein. Das veranlasst ungewollt Schwangere, ihre Gedanken und Gefühle geheim zu halten und zu dem Thema zu schweigen. Scham und Angst sind weitere Gründe, warum Frauen illegal abbrechen. „Ich schäme mich sehr beim Gedanken daran, mit anderen Menschen über meine Entscheidung zu sprechen, die Schwangerschaft abzubrechen. Ich habe das Gefühl, dass man mich verurteilen würde.“ Oder: „Ich will den ‚normalen‘ Weg nicht gehen, weil dann meine Familie davon erfahren würde. Ich habe das Internet intensiv nach Pro und Contra durchsucht. Ich bin mir sicher, dass eine Abtreibung die richtige Entscheidung für mich ist. Ich will nicht mit meiner Familie über etwas diskutieren, das nur mich selbst betrifft.“
Deutschland missachtet Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation
Dass ungewollt Schwangere illegale Wege suchen, liegt auch daran, dass der Zugang zu Abbrüchen in Deutschland mitunter schwer ist. Leichter könnte er werden, hielte sich Deutschland an die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Doch diese werden hier ignoriert, ja, es wird gar das Gegenteil gemacht. Die WHO empfiehlt Abbrüche zu legalisieren, Informationen zu verbreiten, auf die Entscheidung Schwangerer zu vertrauen – ohne festgelegte Bedenkzeit oder Zwangsberatung. In Deutschland sind Abtreibungen kriminalisiert. Bis vor Kurzem verbot Paragraph 219a, Informationen zu verbreiten. Frauen müssen auch heute noch zu einer Beratung und sind gezwungen, danach drei Tage lang zu warten. „Beratungen sind super“, sagt Sophie. „Nur sollten sie freiwillig sein – für jene, die eine Beratung möchten.“
Geht es nach der WHO, dürfen Frauen ihre Schwangerschaft vor der zwölften Woche selbst mit Medikamenten beenden, ohne in einer Arztpraxis oder Klinik beaufsichtigt zu werden. In Deutschland ist es verboten, ohne medizinische Überwachung eine Schwangerschaft selbst abzubrechen.
Die WHO hat immerhin Richtlinien für den medizinischen Eingriff, Deutschland nicht. Deutschland hat den §218 im Strafgesetzbuch, der es verbietet, Schwangerschaften abzubrechen. Das Gesetz hat seinen Ursprung im Jahr 1871 – einer Zeit, als ein Kaiser Deutschland regierte. Damals schränkte man die Rechte von Frauen ein, mit dem Gedanken, eine größere Bevölkerung und mehr Arbeitskräfte zu generieren. Frauen, die beim Abbruch erwischt wurden, warf man bis zu fünf Jahren lang in ein Zuchthaus.
Viele brachen ihre Schwangerschaft dennoch ab – vor 150 Jahren wie heute. Wer sich an die Organisation Women on Web wendet, wird per Mail durch den ganzen Prozess begleitet. Zuerst füllt man ein Online-Formular aus, berechnet die Schwangerschaftswoche, macht Angaben zu Gefühlen, Allergien und Kaiserschnitten. Dann bekommen Betroffene eine E-Mail. Darin werden offene Punkte geklärt und legale Angebote aufgezeigt. Sobald alles geklärt ist, schreiben die Ärztinnen der Organisation ein Rezept für Abtreibungspillen und versenden es an Apotheken außerhalb Deutschlands. Eine weitere Mail erklärt den Empfängerinnen, wie sie die Pillen einnehmen sollen.
Kommen die Medikamente bei der Empfängerin an, kann sie mit oder ohne Begleitung fortfahren. Manche sprechen jeden Schritt ab, andere nehmen die Medikamente und melden sich nie wieder. „Es ist das Recht jeder Person, sich so viel Unterstützung zu holen, wie sie braucht“, sagt Sophie. Fünf bis sechs Wochen nachdem die Tabletten ankamen, bittet Women on Web Betroffene um Feedback.
Und was, wenn der medikamentöse Abbruch schiefgeht? Was, wenn die Schmerzen oder der Blutschwall zu stark sind? Women on Web empfiehlt, dann ärztliche Hilfe zu suchen. Man könne sagen, es sei eine Fehlgeburt, schreibt die Organisation auf ihrer Website. Die Behandlung sei die gleiche. Tatsächlich ist ein Schwangerschaftsabbruch eine Fehlgeburt, die absichtlich herbeigeführt wird.
Nur eine Arztpraxis verschickt Abtreibungspillen auf offiziellem Weg
Einige Frauen, die Women on Web schreiben, haben schon über den offiziellen Weg einen Abbruch vornehmen lassen und dabei schlechte Erfahrungen gemacht. Sie berichten von verurteilenden Kommentaren, Überzeugungsversuchen, das Kind zu behalten, und dass die Genehmigung für den Abbruch hinausgezögert worden sei. „Weil ich vor drei Jahren eine Abtreibung hatte, weiß ich, was für ein Spießrutenlauf mich erwartet. Das verkrafte ich nicht noch mal.“
Es gibt in Deutschland eine einzige Arztpraxis, die ungewollt Schwangere auch telemedizinisch bei einem Abbruch begleitet, ähnlich wie Women on Web es tut. Das Berliner Familienplanungszentrum Balance verschickt ebenfalls Abtreibungspillen nach Hause – ganz legal und offiziell. Ein paar Hürden bleiben jedoch, wenn man sich an das deutsche Recht hält: Eine Gynäkologin oder ein Gynäkologe muss die Schwangerschaft bestätigen. Das heißt, Schwangere müssen mindestens einen Termin außer Haus wahrnehmen. Gespräche mit Ärzt:innen und der Beratungsstelle kann man am Telefon oder als Videoanruf erledigen. Die Kosten müssen Betroffene selbst tragen.
Hinweis: Dieser Artikel ist weder ein Ratgeber noch eine Empfehlung.
Text: Sabrina Winter
Foto: Amac Garbe
Dieser Text ist zuerst auf vice.com/de erschienen.