Regeln an, Regeln aus, Shutdown

Ich bin ein ruhiges Gemüt. Fettnäpfchen nehme ich mit Humor, Zugverspätungen ärgern mich nicht und auch Problemkund:innen auf der Arbeit sehe ich relativ entspannt. Aber als vergangenes Wochenende klar war, dass Sachsen in einen Shutdown geht, fühlte ich mich wie vor den Kopf gestoßen. Ich wollte schreien, auf die Straße rennen, ich wollte weinen. Keine Kultur, keine Restaurantbesuche nach 20 Uhr, Corona-Tests auf Arbeit mehrmals wöchentlich. Ich war in den Stunden danach frustriert und ratlos.

Kein Striezelmarkt

Es geht mir nicht um die Weihnachtsmärkte. Die Händler:innen tun mir leid und ich hoffe, dass es nicht nur Entschädigungen gibt, sondern die Möglichkeit, dass sie ihre Ware digital verkaufen können und dabei unterstützt werden. Aber ich brauche kein besinnliches Beisammensein mit Leuten an einer Holzhütte, während ich von anderen angerempelt werde. Ich finde Glühwein nach dem ersten Glas eklig und kann die immer gleichen Stände mit Senf und Kerzen und Pyramiden und Zinnfiguren nicht mehr sehen. Und ein Räuchermännchen habe ich bereits in einem Laden für Erzgebirgische Schnitzkunst gekauft. Für mich sind Weihnachtsmärkte kein Kulturgut, sondern nur Stände auf einer Fläche, die man früher super als Parkplatz nutzen konnte.

Was mich wirklich erschreckt hat, war die Erkenntnis nach dem Schock. Dass sich eigentlich nur wenig geändert hat. Weil ich schon eineinhalb Jahre in diesem Wechsel aus Regeln und ihren Lockerungen lebe.

Welt im Stillstand

Als Deutschland im März 2020 auf den ersten Shutdown zusteuerte, war ich verwirrt. Vieles fühlte sich neu an und viele Institutionen wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Langsam entwickelten sich aber Kreativität und Solidarität. Künstler:innen veranstalteten online Konzerte, die Stadt stellte Kulturinseln zur Verfügung, Museen stellten digitale Rundgänge online. Ich hatte das Gefühl, dass sich etwas bewegt und dass sich eine neue Welt eröffnet. Die ersten Lockerungen im Juni waren wie eine Erlösung. Endlich wieder zu zweit spazieren gehen und ein Getränk trinken. Sich auf einen Besuch in einer Bar freuen und realisieren, dass sie tatsächlich offen ist. Nicht mehr das Gefühl haben, etwas Verbotenes zu tun, wenn man das Haus verlässt.

Ein paar befreite Monate

Der Sommer danach war großartig. Ich habe es genossen, mich mit Freund:innen zu treffen, Open-Air-Konzerten zu lauschen, ins Theater zu gehen. Ich habe wertschätzen können, dass wir trotz der gedrückten Stimmung und dem Dauerthema Corona Zeit miteinander verbringen konnten. Mein Freund und ich waren sogar im Urlaub in Niedersachsen. Auch wenn die Maßnahmen das Frühstück zum Horrorfilm von Klimaaktivist:innen gemacht haben, weil alles eingepackt war. Wir haben uns gefreut, durch die Stadt zu schlendern und Museen besuchen zu können, teilweise sogar ohne Maske. Und trotzdem spielte immer die Angst mit. Würde ich mich versehentlich anstecken? Was, wenn ich nach Hause käme und meine Kolleg:innen infizierte? Das Abwägen zwischen Spaß und Notwendigkeit wurde zu einem steten Begleiter.

Die nächsten Einschränkungen

Im Oktober stand der zweite Shutdown vor der Tür. Glücklicherweise habe ich in eine der letzten Vorstellungen des „Zauberbergs“ am Staatsschauspiel gesehen, bevor es wieder schließen musste. Es war das erste Mal, dass ich eine ganze Vorstellung mit Maske erlebte und ich war aufgeregt. Letztlich war es ein sehr schöner Abend mit einem Bühnenbild, das mir in Erinnerung blieb. Ich wollte diese Inszenierung unbedingt sehen und bin froh, dass es geklappt hat.

Die Feiertage waren geprägt von Unsicherheit und Frust. Die Weihnachtsfeier der Freund:innen meines Partners musste digital stattfinden, was gut funktionierte, aber nicht dasselbe war. Ein Teil meiner Familie konnte nicht mitfeiern. Und sich während der Feiertage nicht an die Gurgel zu gehen, das fällt schwer, wenn die Möglichkeiten zur Ablenkung begrenzt sind.

Neues Jahr, gleiches Gefühl

Im Jahr 2021 hatten wir uns in unser neues Leben eingefunden. Abgesehen von der ständigen Diskussion um Impfungen, Impftermine, Impfzertifikate und Impfnachweise wirkte mein Leben entspannter. Die Maske in der Straßenbahn, das Desinfizieren der Hände, wenn ich einen Laden betrat. Das ständige Achten auf Abstände – das alles war Routine. Der Sommer war aber auch unaufgeregter. Ich hatte das Gefühl, dass der Elan, den Einschränkungen zu trotzen und nach neuen Möglichkeiten zu suchen, erschöpft war.

Viele Geschäfte, Bars, Kulturorte sind tot. Geht man durch die Einkaufszentren Dresdens, haben manche Läden nur zeitweise geöffnet oder sind ausgezogen. Geht man durch die Neustadt, finden sich Lücken, wo früher Bars waren. Und mein Lieblingscafé hat überwiegend am Wochenende offen, weil zu wenig Personal da ist.

Der Frust mit der Kunst

Obwohl bis zum Montag dieser Woche Theater und Bars wieder zugänglich waren, stellte sich bei mir eine Kulturmüdigkeit ein. Ich wusste nie, welches Kino, welches Theater ich wann und unter welchen Regeln besuchen konnte. Ich wusste nicht, ob ich selbst Kleinkunst veranstalteten durfte. Einige Kleinkunstbühnen und Jam-Sessions wurden (vorläufig) nicht wiederbelebt. Andere konnten zwei Monate stattfinden. Ich habe inzwischen den Bezug verloren. Die Kunst und ich haben uns auseinandergelebt, weil wir solange getrennt waren. Hinzu kam immer die Frage, ob es das Risiko wert ist. Ich bin geimpft, aber wenn ich sehe, wie nah sich Menschen in einer Schlange oder in einer Ausstellung kommen, dann überlege ich genau, ob ich das tun will.

Des Pudels Kern

Ich dachte, wenn die Regeln gelockert werden, wird alles wieder normal. Ich dachte, dass es die ganze Zeit um Corona und den Freistaat und den Bund geht. Aber es geht um mich. So sehr ich versuche, den Regeln zu folgen und ein erfülltes Leben zu haben – spurlos sind diese 20 Monate nicht an mir vorbeigegangen. So lange Kunst entbehren zu müssen, das hat sich irgendwann nicht mehr nach Entbehren angefühlt.

Vielleicht sollten wir aufwachen. Vielleicht sollten wir uns strecken, einen Tee trinken und aus dem Bett hüpfen. Wir sollten das Fenster aufreißen, die frische Herbstluft genießen und den Tag begrüßen. Anstatt auf Social Media gegen Gesundheitsminister:innen, Ministerpräsident:innen, das System und die Nicht-Geimpften zu schießen, sollten wir überlegen, was wir tun können. Wie wir lokale Händler:innen unterstützen können. Wie wir Mitbürger:innen helfen, die unter Einsamkeit leiden. Wie wir anderen eine Freude und die Welt ein bisschen schöner machen können.

Denn eines ist klar: Der Shutdown verschwindet nicht. Die Inzidenz wird nicht geringer, je mehr Likes ein Spruch auf Facebook hat. Und von fünf Posts gegen die Schließung der Weihnachtsmärkte hat ein:e einzelne:r Händler:in nichts. Wir dürfen betrauern, dass so vieles nicht geht. Wir dürfen wütend sein und darüber diskutieren, was man hätte besser machen können. Aber anstatt zu den Mistgabeln sollten wir zum Telefon greifen und die Leute anrufen, die unsere Hilfe brauchen.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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