Männlich, weiblich, uneinheitlich

Alles hat seine Grenzen. Ich bezeichne mich als toleranten Menschen, wenn es um Sprache geht. Dass der Schaumkuss jetzt Schaumkuss heißt, finde ich richtig. Denn der alte Begriff ist rassistisch und der neue ändert das Produkt nicht. Gendern in verschiedenen Formen befürworte ich. Und dass manche Menschen noch an der alten Rechtschreibung festhalten, stört mich auch nicht. Bis ich neulich ein Video über die Frage nach den Personalpronomen sah. „Das ist Robin. Er (oder sie?) hat ein blaues T-Shirt an.“ Und dort eine nicht-binäre Person ohne Pronomen, sondern mit Namen angesprochen werden wollte, notfalls mit einer Umstellung des Satzes. Da glühten meine Lämpchen in allen Regenbogenfarben. Mein innerer Sprach-Nazi erwachte zum Leben und entlockte mir Sätze wie „Jetzt nehmen die mir auch noch meine Satzstellung weg!“. Und nachdem ich fertig mit Fluchen war und damit meine Nachbar:innen erfolgreich geweckt hatte, hielt ich inne. Und ärgerte mich über meine eigene Dummheit. Warum sind manche Dinge für mich noch in Ordnung, aber andere untragbar?

Wir müssen über Geschlechter reden!

Sprache kann unser Verständnis von „Gender“, also dem sozialen Geschlecht, formen. Wenn von „Physikern“ die Rede ist, denken die meisten Menschen erst mal an Männer – obwohl dieses generische Maskulinum auch Frauen einschließen kann. Oder Menschen, die sich nicht in dieses (binäre) System einordnen. Wenn in Sätzen männliche und weiblichen Formen verwendet werden, kann es sein, dass sich Männer und Frauen damit leichter identifizieren und sich z. B. in Stellenanzeigen deutlicher angesprochen fühlen.

Auch bei der Sache mit den Pronomen geht es um das Thema Sichtbarmachung. (Biologische) Geschlechter bieten uns Sicherheit. Wenn ich jemanden eindeutig als männlich oder weiblich identifiziere, habe ich sofort einen Plan, wie ich mit ihm umgehe. Ich kann nicht erklären, wie dieser Plan aussieht, aber wahrscheinlich würde ich auf andere Körpersignale achten, auf Unsicherheit (Frauen) oder Selbstbewusstsein (Männer). Ich wüsste, welche Themen ich im Smalltalk verwenden kann. Auch wenn das letztlich eine Frage des Charakters und der Situation ist, hätte ich das Gefühl, dass ich wüsste, was ich tue. Wenn jemand nicht in diese beiden Schubladen passt, bin ich irritiert und habe Angst, dass ich etwas falsch mache.

Es gibt aber Menschen, die sich weder als männlich noch weiblich definieren. Weil sie in sich Merkmale beider Geschlechter fühlen oder gar keine. Weil die Zuschreibungen und Vorurteile, die wir gegenüber den Geschlechtern haben, für sie nicht komplett zutreffen. Weil besonders diese Vorurteile dazu führen, dass sie sich ausgeschlossen fühlen. Und weil ein nicht zutreffendes Pronomen sie an Zeiten erinnert, in denen sie mit sich gehadert haben. Die Frage nach den Pronomen kann letztlich dazu führen, dass wir die Möglichkeiten für das soziale Geschlecht erweitern, bis es irgendwann keine Rolle mehr spielt.

Wie nutzen wir unsere Sprache dafür?

Für das Gendern gibt es das bekannte Binnen-I, z. B. LehrerInnen. Oder den Genderstern (Lehrer*innen) oder einen Doppelpunkt (Lehrer:innen). Man kann auch beide Formen ansprechen (Schülerinnen und Schüler) oder neutrale (Mensch statt Mann und Frau) nehmen. Ein bekannter Streitpunkt ist die Frage, ob ein Studierender das gleiche ist wie ein Student.

Alle diese Formen haben Vor- und Nachteile: Das Binnen-I kann die Lesbarkeit behindern, beim Stern oder dem Doppelpunkt kann es Probleme mit der Barrierefreiheit geben, weil sie von Sprachausgaben nicht richtig gelesen werden können und z. B. ein Doppelpunkt für ein Satzende gehalten wird. Dafür schließen sie auch Nicht-Binäre ein. Das Verwenden der männlichen und weiblichen Form kann einen Satz sperrig machen, macht aber Frauen gut sichtbar.

Meine Erfahrung in der Praxis ist: Es ist kompliziert. Denn leider hat das Geschlecht, grammatikalisch betrachtet, nicht nur Auswirkungen auf das Substantiv, sondern auch auf den Artikel. Ein Beispiel aus der letzten Kolumne ist „ein Arzt oder eine Ärztin“. Hier konnte ich nicht mit Doppelpunkt gendern, sondern musste auf beide Formen zurückgreifen. Der Doppelpunkt irritiert mich beim Lesen zudem, wenn im gleichen Satz noch ein Doppelpunkt als Satzzeichen folgt. Es erfordert Übung, das generische Maskulinum zu erkennen und bewusst zu ersetzen. Und manchmal stelle ich mir die Frage, ob mir das Geschlecht gerade wichtig ist, z. B. wenn ich erzähle, dass ich mit Freundinnen tanzen war. Real stattgefunden hat das Ereignis mit Frauen. Aber ist es für den Text und damit für die Leser:innen relevant, dass es Frauen waren?

Bei den Pronomen ist es komplizierter, weil wir im Deutschen selten ein drittes Personalpronomen für Menschen nutzen. Möglichkeiten sind das englische „they“ bzw. dessen eingedeutschte Form „dey“ oder das schwedische „hen“. Ich habe damit leider noch keine Erfahrungen sammeln können, stelle mir aber vor, dass die Umstellung etwas Übung braucht.

Sprache bewegt

Wenn ich mit Freund:innen über das Gendern rede, dann fällt eines auf: Als Konstrukt lehnen sie es ab, meist mit Verweis auf die Verhunzung der Sprache. Aber wenn ich es in einem Gespräch bewusst anwende, fällt es kaum auf. Mein Eindruck ist, dass das Thema oft komplexer kommuniziert wird, als es notwendig ist. Es wirkt wie ein Diskurs, den nur hochgebildete Menschen führen, wenn sie zu viel Zeit haben.

Besonders die Fremdwörter finde ich nervig. Sie sorgen dafür, etwas möglichst exakt auszudrücken, aber sie erschweren auch den Zugang. „Gender“ klingt komplizierter als „Geschlechtsidentität“. Ein Synonym für „gendern“ wäre „die Sprache den Geschlechtern anpassen“. „Nicht-binär“ klingt für mich nach Computern, nach Zahlen. Obwohl der Begriff meint, dass man sich nicht in die typischen Geschlechterrollen männlich und weiblich einordnet.

Unser Begriff von Geschlecht (biologisch und sozial) ist für uns so selbstverständlich, dass wir ihn als gegeben hinnehmen. Dass wir diese Rollen nun hinterfragen, bricht etwas auf. Unsere Vorstellungen von männlichen und weiblichen Charaktereigenschaften. Dass es so was eigentlich nicht gibt, sondern dass das nur Muster sind, die sich entwickelt haben. Aber eben nur Muster. Und wer hält sich schon immer an die Linien in einem Ausmalbuch?

Vielleicht ist die Diskussion um Pronomen auch schwer, weil wir unsere Identität hinterfragen. Menschen, die sich offen als nicht-binär bekennen, sind mutig. Sie haben in sich geblickt und festgestellt, dass sie sich innerhalb der gesellschaftlichen Grenzen nicht wohlfühlen. Bei manchen Menschen bricht jetzt etwas auf. Sie hinterfragen, wie eindeutig männlich oder weiblich sie sich fühlen und welche Konsequenzen das hat. Ob sie mit dem Strom schwimmen und sich anpassen. Oder ob sie ihre Form von Identität ausleben und sich ihrem Umfeld erklären. Es sind wahrscheinlich widersprüchliche Gefühle, die sie verarbeiten müssen.

Außerdem halten wir uns manchmal für toleranter, als wir sind. Dass das generische Maskulinum für beide Geschlechter gilt, ist scheinbar klar. Aber dass es tatsächlich Bauarbeiterinnen gibt, das ist doch eher selten? Dass Frauen in körperlich anspruchsvollen Berufen arbeiten können, ist für manche nicht vorstellbar. Weil sie anders gebaut sein können. Weil sie „zarter“ sind. Obwohl es manchmal nur eine Frage der Technik ist.

Und überhaupt: Warum müssen wir uns damit beschäftigen, wenn es im Alltag so viele andere Probleme gibt, z. B. eine wichtige Präsentation, den Klimawandel oder die Inflation? Wie viel Nebenjob mit dem Bafög vereinbar ist und ob man die nächsten Prüfungen schafft. Ob morgen noch genügend Geld da ist, um mit den Kindern in den Urlaub zu fahren. Die Geschlechter(rollen) anderer erscheinen uns weiter weg als unsere Baustellen. Obwohl ich mir manchmal die Frage stelle, woher manche Kommentator:innen die Zeit nehmen, ausführlich gegen etwas zu sein, anstatt sich um ihre „wichtigen“ Probleme zu kümmern. Oder sich zu informieren und ihre Meinung mit Argumenten zu untermauern. Vielleicht, weil ihre Konflikte unlösbar scheinen und sie über das Gendern mit vielen anderen reden können.

Für mich stellt sich auch nicht die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, denn die Datenlage ist dünn. „Geschlecht“ ist für manche Menschen etwas Privates, das sie nicht immer offenlegen. Daher gibt es nur wenige Zahlen darüber, wie viele Menschen von dieser Diskussion profitieren. Und der Eintrag „divers“ im Geburtenregister, den laut Wikipedia 394 Menschen bis September 2020 gewählt haben, ist mit rechtlichen Hürden verbunden. Es kann sein, dass sich viel mehr Menschen als nicht-binär fühlen als öffentlich sichtbar ist.

Was ich schwierig finde, dass es soviel Schwarz-Weiß-Denken gibt. Leute, die andere verurteilen, weil sie nicht gendern oder in ihrem binären Geschlechtssystem verharren. Und andere, die nichts damit anfangen können. Ich nehme nur selten Leute wahr, die beides in Ordnung finden. Die ebenfalls mit dem Thema hadern und Angst haben, jemandem wehzutun.

Wir entwickeln unsere Sprache

Sprache schafft Identität, aber auch soziale Schubladen. Wer sich „gut“ ausdrückt, ist gebildet, wer Dialekt nutzt eher nicht. Wer auf Social Media zu viele Rechtschreibfehler macht, dessen Meinung ist weniger wert. Sprache gibt uns Sicherheit, unterteilt die Welt. Der Duden als heilige Schrift, als Manifest der Rechtschreibregeln. Ein Maßstab für unsere Leistungsfähigkeit. Aber keine:r wird bestraft, weil er oder sie ein falsches Komma setzt.

Der Irrtum besteht darin, dass Sprache fest sei. Aber jeder Mensch kann seine eigenen Regeln schaffen, solange er oder sie mit anderen kommunizieren kann. Daher ist es auch in Ordnung, dass mehrere Formen des Genderns oder verschiedene Pronomen für nicht-binäre Menschen existieren. Jede:r kann für sich ausprobieren, welche Formen ihm oder ihr leichter über die Lippen gehen.

Und gerade weil Sprache und Korrektheit so einen hohen Stellenwert haben, habe ich Angst. Angst, dass ich etwas falsch mache. Dass ich jemanden mit dem falschen Pronomen oder Namen anrede. Aber auch die Angst, meine Vorurteile zu hinterfragen. Zuzugeben, dass ich etwas (noch) nicht verstehe.

Ein Plädoyer für mehr Freiheit

Eigentlich geht es nicht um Gender. Es geht nicht um Sternchen, Pronomen oder darum, das vermeintlich Richtige zu tun. Es geht um uns Menschen. Menschen, die akzeptiert werden wollen mit dem, was uns wichtig ist. Dass man als scheinbare Frau nicht komisch angeguckt wird, weil man einen geschlechtsneutralen Vornamen hat oder vermeintlich maskulin auftritt. Dass man Männern, die bunten Nagellack tragen, weibliche Attribute zuschreibt. Aber auch, dass man anerkennt, dass in jedem Berufszweig Männer, Frauen und Diverse arbeiten.

Menschen bestehen aus vielen Charaktereigenschaften. Aber wenn uns unsere Vorurteile davon abhalten, genauer hinzusehen, dann sind sie es wert, dass man sie diskutiert.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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