Kleiner Piks, große Wirkung

Vor ein paar Wochen war es so weit: Ich stand morgens auf, frühstückte ausgiebig und betrachtete die Unterlagen, die schon seit Tagen auf meinem Schreibtisch lagen. Den Zettel mit dem Termin. Den Fragebogen, auf dem chronische Krankheiten und Reaktionen auf vorherige Impfungen notiert werden mussten. Das Informationsblatt mit den angebotenen Impfstoffen und den Reaktionen, die sofort oder in den nächsten Tagen auftreten könnten. Eine Liste, die kürzer war als die der Nebenwirkungen von vielen Medikamenten. Noch einmal prüfte ich, ob ich alle Fragen aufgeschrieben hatte, die ich noch mit dem Arzt oder der Ärztin klären wollte. Dann schnappte ich mir mein altes DDR-Impfheftchen und lief zur Bahn.

Meine Entscheidung, mich impfen zu lassen, war persönlich. Die Gründe sind gesellschaftlicher Natur.

Für mich war und ist Covid-19 immer noch etwas, das ich schwer greifen kann. Weil ich es glücklicherweise in meinem Umfeld kaum erlebt habe. Ich sehe die Gefahr, aber es fällt mir schwer, sie einzuordnen. Manchmal wünschte ich, kranke Menschen würden einen Schnupfen-Smiley über ihrem Kopf tragen oder ihre Körperflüssigkeiten würden leuchten, damit ich sehen kann, wer besonders ansteckend ist. Damit ich eine Vorstellung habe, wie die Erreger im Alltag verbreitet sind. Eine Deutschlandkarte, auf der die Inzidenz farblich abgestuft erkennbar ist, ist mir zu vage.

Hinein in diese Unsicherheit fielen mehrere Shutdowns, ein Zusammenbruch des kulturellen Lebens und unterschiedliche Abstands- und Kontaktregeln in jedem Bundesland. Wenn das Leben so eingeschränkt ist, dann muss die Bedrohung doch real sein, oder? Dann ist es doch das Beste, wenn man alles tut, um sich und andere zu schützen, mit den bestmöglichen Mitteln?

Dann kam der Impfstoff. Und die Trophäen-Jagd auf Social Media war eröffnet. Gefühlt jede:r postete stolz seinen Impfpass mit dem Aufkleber. Und ich fühlte mich jeden Tag mehr unter Druck gesetzt. Wann würden meine Freunde und Freundinnen mitbekommen, dass ich noch keine Spritze bekommen hatte? Wann würde jemand Fragen stellen, mir Vorwürfe machen? Wann käme der Punkt, an dem ich erklären müsste, was ich selbst schwer erfassen konnte – dass ich nicht wusste, was der Impfstoff in mir auslöst?

Als Kind war alles einfach: Ich ging mit meinen Eltern zum Arzt, bekam eine Spritze und ein Bärchenpflaster und danach ein Lob, weil ich so ein tapferes Kind gewesen war. Ich war stolz, meinen Eltern bewiesen zu haben, dass ich auf diese Art „erwachsen“ war, weil ich nicht weinte. Ich kann mich weder an Schmerzen noch an Fieber erinnern. Es war einfach völlig normal. Es war gut. Als Erwachsene nach so langer Zeit wieder eine Impfung zu bekommen, das war beängstigend. Ich wusste nicht, was das mit meinem Körper macht. Vielleicht wäre ich eine der wenigen Ausnahmen, bei denen alles schieflaufen würde? Vielleicht würde ich ohnmächtig werden oder tagelang mit Fieber im Bett liegen? Wer würde mich versorgen? Die Impfreaktionen in meinem Umfeld waren unterschiedlich – von leichten Schmerzen bis zu grippeähnlichen Symptomen, die länger andauerten. Scheinbar war jeder Körper unterschiedlich und eine Vorhersage für meinen ließ sich nicht treffen.

Letztlich habe ich mich für eine Impfung entschieden, weil ich keine Lust hatte, weiter zu grübeln. Zu wissen, dass eine Impfung Sicherheit gibt, aber ich nicht sicher war, zu welchem Preis. Letztlich gab den Ausschlag, dass ich mich nicht ausgeschlossen fühlen wollte.

Und tatsächlich machen die Impfung und die App, mit der ich das nachweise, vieles einfacher. Wenn ich spontan weggehe, muss ich nicht mehr überlegen, ob das Testzentrum noch offen ist. Oder ob auch ein Selbsttest reicht. Ob ich im Restaurant draußen sitzen muss oder drinnen essen kann. Ich muss die Wartezeit auf das Testergebnis nicht einplanen, mich nicht über die Regeln informieren. Wenn ich meine Maske kurz absetzen muss, weil es mir nicht gut geht, oder wenn mir Menschen an der Kasse näher als 1,50 Meter kommen, dann beruhigt mich, dass ich einen Schutzpanzer habe. Die Impfung lässt mich nicht nachlässiger werden, aber sie verzeiht Fehler.

Dennoch würde ich nie jemanden zu einer Impfung drängen. Ich glaube, die Argumente haben sich nicht verändert. Eine Impfung ist keine Anti-Falten-Creme, die man nur äußerlich aufträgt. Sie ist auch keine Kopfschmerztablette, die man nimmt und deren Abfallprodukte später ausgeschieden werden. Eine Impfung schleust bewusst Feinde (oder Bruchstücke ihres genetischen Codes) in den Körper, damit das Immunsystem lernt, ihnen wie James Bond in den Hintern zu treten. Damit der Feind bei einer echten Infektion fachgerecht eliminiert wird. Andererseits nehmen viele Menschen Medikamente, die kurz- und langfristige Wirkungen haben, die auch Monate nach dem Absetzen anhalten können, z. B. die Anti-Baby-Pille. Wenn es um Eingriffe in den Körper geht, welches Maß legen wir bei einer Impfung an?

Ich verstehe, dass es Leute gibt, die Bedenken haben, sich etwas in den Körper injizieren zu lassen, dass es erst seit einem Jahr gibt. Weil der Körper verletzlich ist und die Angst vor dem Unbekannten groß. Weil selbst die Erklärung eines mRNA-Impfstoffs bei Wikipedia schwer verständlich ist. Weil man nicht weiß, ob das richtig und folgenlos ist. Ich verstehe auch Menschen, die sich nicht impfen lassen können, weil sie eine Vorerkrankung haben, die Reaktionen wahrscheinlich macht.

Hinzu kommt bei manchen die Tatsache, dass im Umfeld kaum jemand geimpft ist. Der soziale Druck, der mich dazu gebracht hat, mir die Spritze geben zu lassen, wird manche auch davon abhalten. Ich habe Verständnis dafür, es wertet die Menschen für mich nicht ab. Manche von ihnen halten die Abstandsregeln besser ein als ich. Sie achten darauf, zu wem sie Kontakt haben, und vermeiden große Menschenansammlungen. Ich würde nie jemanden ablehnen, weil er nicht geimpft ist.

Trotzdem habe ich ein mulmiges Gefühl, wenn Fußballspieler, die Körperflüssigkeiten ausscheiden und zu mindestens 21 Mitspielern Kontakt haben, sich nicht impfen lassen. Oder Menschen mit 2G-Regeln einfach in einer Disko feiern. Obwohl ich um die wirtschaftlichen Vorteile weiß, verstehe ich nicht, warum sich Menschen so nah kommen. Warum sie sich und andere dieser Gefahr aussetzen, obwohl weder Fußball noch Tanzen in überfüllten Räumen essentiell sind. Ein Teil in mir ist für Selbstbestimmung und will niemanden benachteiligen, weil er sich nicht impfen lässt. Der andere wünscht sich, dass diese Leute ihre Bedürfnisse nach Spaß und runden Gegenständen zurückstellen, damit andere potentiell nicht erkranken. Ich würde niemanden verurteilen. Aber gern einen Ball gegen eine Wand treten.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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