Ich bin jetzt Anfang Dreißig. Ein Alter, das mir als Kind so weit weg erschien. Bis zum nächsten Tag habe ich gedacht, bis zum nächsten Mittagessen in der Kita, bis zum nächsten Mal Spielplatz, Freunde treffen. Bis zur nächsten Klassenarbeit, dem Abschluss der Ausbildung, dem sicheren Job. Und jetzt, wo ich vom Kind zur Erwachsenen werde, merke ich, wie sich das Verhältnis zu meinen Eltern wandelt.
Als ich kleiner war, waren sie meine Mentoren. Ich habe ihnen bedingungslos vertraut, ihre Entscheidungen meistens nicht hinterfragt. An schlechten Tagen tue ich das heute noch und grüble, was ich anders gemacht hätte. Dann drehe ich mich sinnbildlich so lange im Kreis, bis ich realisiere, dass ich die Vergangenheit nicht rückgängig machen kann. An guten Tagen sehne ich mich danach, dass sie da sind. Dass sie mir sagen, welche Versicherung ich abschließen soll, welchen Kunststoff ich beim Zahnarzt nehme, zu welchem Konzert ich gehen und welchen Partner ich wählen sollte. Auch wenn sie den Hans von nebenan nur deshalb gut finden, weil sie mit seinen Eltern seit Jahren befreundet sind. Oder weil es in der Zeitung steht. Oder irgendjemand auf Social Media geteilt hat. Oder weil schon Opa bei der Versicherung seine ersten Euros hinterlegt hat. Manchmal könnte ich, statt meine Eltern zu fragen, auch eine Münze werfen. Aber sie sind meine Eltern, ihre Meinung wird immer Gewicht haben.
Aber mit dem Erwachsenwerden hat sich unser Verhältnis verändert. Das erste Mal, als ich einen Freund hatte und spürte, dass es diese bedingungslose Liebe auch von anderen Menschen gibt. (Noch viel später sollte ich übrigens merken, dass Zuneigung tatsächlich an Bedingungen geknüpft ist, die beide verhandeln.) Ein weiteres Mal, als ich meine Ausbildung anfing, andere Mentoren traf und das erste Mal richtig arbeitete. Als ich spürte, dass ich für meine Taten belohnt werde, aber dafür erwartet wird, dass ich sie jeden Tag loyal tue. Dass ein 8-Stunden-Tag mehr Zeit in Anspruch nimmt als 6 Stunden Schule mit Hofpause. Als ich eine Ahnung bekam, was meine Eltern jeden Tag leisteten.
Und jetzt, mit Anfang Dreißig, bin ich es, die ihnen Ratschläge gibt. Wie sie sich auf Social Media verhalten, ohne ihr halbes Leben auszubreiten oder Fakenews auf den Leim zu gehen. Wie sie am schnellsten und umweltfreundlichsten zum Konzert kommen. Welchen Partner sie wählen sollten. (Vor allem, weil mein 3-stufiger Einstellungstest jedes Assessment-Center bei einem Großkonzern wie einen Kindergeburtstag aussehen lässt.) Aber ich muss sie auch trösten, wenn es ihnen nicht gut geht. Wenn sie sich mit ihrer besten Freundin gestritten haben oder einsam sind. Wenn sie am Ende ihrer Arbeitslaufbahn nicht in den zweiten Frühling, sondern den ersten Winter rutschen. Wenn sie verunsichert sind, weil sich die Welt schneller verändert, als sie sich ihr anpassen können, aber trotzdem jeder eine Meinung haben muss. Ich mache mir Gedanken, wenn sie Rückenschmerzen haben und verkneife mir mit Mühe, ihre Beschwerden zu googeln.
Meine Aufgabe besteht nicht nur darin, bedingungslos zurückzulieben, sondern ein Partner zu sein. Und das fühlt sich falsch an. Wie soll ich jemandem beistehen, der dreißig Jahre mehr Lebenserfahrung hat als ich? Ich bin traurig und enttäuscht, weil meine Eltern versagt haben. Weil sie nicht die eierlegende Wollmilchsau sind, für die ich sie gern halte. Sondern Menschen. Menschen mit Ängsten und Zweifeln. Ich habe als Teenager Entscheidungen getroffen, die meine Eltern nicht gut fanden. Jetzt treffen meine Eltern Entscheidungen, die ich nicht gut finde, und sie erwarten Loyalität. Dass sie zurückbekommen, was sie gegeben haben. Ich finde das doof.
Ich kenne auch den umgekehrten Fall: Dass Eltern ihre Kinder nicht mit ihren Problemen belasten wollen, weil sie sich schämen. Weil sie die starken Eltern sind und ihre Kinder die Küken, die man beschützen muss. Weil sie die, die grade das Leben lernen, nicht mit dem Älterwerden konfrontieren wollen. Weil sie das Wohl ihrer Kinder über das eigene stellen. Obwohl das ein Irrtum ist, denn sie haben uns das Rüstzeug mitgegeben, um mit Problemen so umzugehen, dass wir anderen helfen und uns selbst nicht schaden.
Je älter wir werden, desto mehr Angst haben wir um sie. Weil sie nicht mehr so flexibel sind, körperlich und geistig. Weil schon Menschen an einem Schnupfen gestorben sind. Weil wir irgendwann diejenigen sein werden, die ein Pflaster aufkleben und das Katzenlied singen oder ihnen Grießbrei mit Apfelmus kochen. Was tun wir, wenn sie nicht mehr da sind? Wie bewältigen wir den Spagat aus Trauer, Identitätskrise und Weiterleben?
Vielleicht liegt die Antwort in beidem: Sie sind unsere Eltern, aber sie sind auch Menschen. Sie vertrauen uns blind und würden uns vieles verziehen. Sie sind aber auch Menschen, die wir wertschätzen. Die uns bereichern. Sie haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, ohne, dass wir sie ständig an einem Ideal messen. Unsere Eltern als Menschen neu kennenzulernen, das kann sehr interessant sein. Als ich mit meinen Eltern die ersten Gespräche über ihr eigenes und unser gemeinsames Leben geführt habe, war ich geschockt und erfreut. Geschockt über die Dinge, die ich als Kind in meiner Zuckerwatte-Welt nicht wahrgenommen habe. Die Dinge, die sie vor mir verschließen wollten. Aber erfreut darüber, dass wir in anderen Situationen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Viele dumme Taten, einige zerbrochene Herzen und ein paar Erfolge. Dass wir uns charakterlich ähnlicher sind, als ich vermutet habe. Dass wir ähnliche Vorlieben haben, ähnliche Wünsche. Und manchmal unterschiedliche Auffassungen vom Leben. Weil ich letztlich gemerkt habe, dass ich eine andere Version zweier Menschen bin, aber ich immer einen Teil von ihnen in mir finde.
Die Angst, Menschen zu verlieren, die einem so wichtig sind, wird nie verschwinden. Aber ich hoffe, dass ich dann sagen kann: Sie waren tolle Eltern, aber vor allem tolle Leute.
Text: Vivian Herzog
Foto: Amac Garbe