Kürzlich haben wir es erwähnt – die Bundestagswahl findet statt. Erst am 26. September, also dem Tag, an dem meist das Neustadt Art Festival endet. Und 89 Tage vor Weihnachten. Aber es lohnt, sich frühzeitig Gedanken zu machen. Denn, so las ich, der Wahlkampf verändert sich. Während die Parteien traditionell in den letzten zwei Wochen zum Sprint auf die unentschlossenen Wähler:innen setzen, könnte sich der Kampf diesmal nach vorn verschieben. Da voraussichtlich viele Bürger:innen mit einem Wahlbrief abstimmen, gilt es, bereits frühzeitig anzugreifen und die Menschen vom eigenen Programm zu überzeugen. Oder davon, dass die anderen die Situation noch schlimmer machen.
Vielleicht bietet uns Corona aber auch die Möglichkeit, näher an die frische Zielgruppe zu kommen. Denn ob es gemütliche Diskussionsrunden im Bierzelt mit alkoholischen Kaltgetränken gibt, ist fraglich. Genauso wie intime Gespräche bei blau glasierten Muffins und Sturmböen, inmitten umherfliegender Flyer.
Steter Strom und hippe Hauls
Da die meisten Bürger:innen und Politiker:innen gelernt haben, wie man Online-Konferenzen schaltet und sich auf den sozialen Netzwerken präsentiert, bin ich dafür, statt schnöder Fotos endlich mal Dinge zu tun, die Jugendliche ansprechen: Gaming, Konsum, Entertainment. Wie wäre es mit einem Livestream auf Twitch mit einem Landwirtschaftsimulator? Anzüge können lügen, aber nichts geht über Politiker:innen, die sich leidenschaftlich aufregen, weil sie gerade die Kartoffelernte mit dem Traktor überfahren haben.
Wie färbt man sich als Politiker:in die Haare so, dass sie auch im Licht von tausend Scheinwerfern gut aussehen? Welche veganen Brotaufstriche schmecken unseren Volksvertreter:innen am besten? Und sollte man lieber die Reiswaffeln mit dunkler oder heller Schokolade kaufen? Auch ein Karaoke-Abend mit der Hitliste deutscher Beiträge zum Eurovision Song Contest wäre zu empfehlen, damit beim Warten auf das Ergebnis wenigstens textsicher mitgegrölt werden kann.
Von den Kurzhaarträger:innen hätte ich gern ein Tutorial, wie man das dünner werdende Kopfhaar so drapiert, dass man wie eine Mischung aus Bad Boy und Schmusetiger aussieht – fies genug, um die Konkurrenz mit einem extra Löffel Zucker in den Diabetes zu treiben, aber nett genug, um verhärtete Fronten mit einem Hundeblick aufzulösen – jedes Detail zählt!
Ein Lied für eine Entscheidung
Und natürlich: ein Song. Sich Lieder von bekannten Bands leihen, die nicht politisch instrumentalisiert werden wollen, das muss nicht sein. Dank Autotune, der richtigen Schnitttechnik und ein paar Co-Stars kann man aus einem langweiligen Wahlprogramm ein Glanzstück der Unterhaltung kreieren. Man braucht: ein paar nackte Menschen, deren Gender egal ist, solange sie Muskeln oder Brüste haben. Ein teures Auto, dessen Verbrauch man verschweigt, solange es schön glänzt. Ein Shirt, das ein paar Nummern zu groß ist. Und eine Baseballkappe. Dazu noch eine Bella, Chica oder Babe. Und schon habe ich das Gefühl, dass die mir die Welt zu Füßen legen, im Austausch gegen meine Stimme. Dass dafür Atomkraftwerke länger laufen, Verbraucher:innenrechte geschwächt werden oder ein Tempolimit eingeführt wird, ist ein vernachlässigbares Opfer.
Boulevard trifft Bürgernähe
Und nachdem ich eine Biografie über einen potentiellen Kanzlerkandidaten gelesen habe, wurde mir auch klar, worum es wirklich geht: leere Phrasen und schmutzige Wäsche. Mit Comic-Motiven, wegen der Bürgernähe. Oder mit Untergebenen, wegen der Nähe, die man notwendigerweise zu seinen Mitarbeiter:innen hat, wenn sich der eigene Partner bzw. die Partnerin gerade weit weg befindet. Hoffentlich haben sich aktuelle oder vergangene Affären, streitlustige Nachbar:innen und andere lebensnahe Personen ein Plätzchen in einer Politik-Talkshow reserviert oder ihre Geschichte in kleine Häppchen portioniert, mit denen man die Klatschpresse stetig beschäftigen kann.
Quo vadis Corona-Konzept?
Doch bevor das Niveau ins Unendliche sinkt und es zu lustig wird, werfe ich einen Blick auf die, die die Wahl als erstes betrifft: 4.000 Wahlhelfer:innen werden in Dresden gebraucht, schreibt die Landeshauptstadt auf ihrer Website. Die Arbeitsgruppe Wahlhelfer wird Ende Mai ihre Arbeit aufnehmen, ein Corona-Konzept speziell für die Wahl wurde noch nicht veröffentlicht. Klar, es gibt weder Begrüßungsküsschen noch spontane Freudentänze auf dem Gang. Aber laut meiner Erfahrung kommt man, je nach Wahlbeteiligung, mit 300 bis 500 Personen in Kontakt. Und auch wenn man ihnen nur ein Blatt Papier gibt und im September noch gut lüften kann, wird die Angst mitkommen. Da einige Wahlhelfer:innen älter und damit Risikogruppe sind, werden auch welche wegfallen. Wäre es organisatorisch möglich, alle Ehrenamtlichen morgens um 6 schnellzutesten, bevor sie den Wahlraum betreten? Wird es mehr Wahllokale geben, damit sich die Bürger:innen besser verteilen? Kommt überhaupt jemand?
Fragen über Fragen. Und es bleibt Euch überlassen, ob Ihr Euer Wahlrecht in Anspruch nehmt, ob Ihr Wahlhelfer:in oder Kandidat:in seid. Doch eine Frage solltet Ihr immer mit „Ja“ beantworten: Tue ich etwas für die Gesellschaft? Gebe ich den Menschen um mich herum etwas zurück?
Text: Vivian Herzog
Foto: Amac Garbe