Die Universitätsschule wurde im Jahre 2019 gegründet und stellt eine Kooperation zwischen der Landeshauptstadt und der Technischen Universität Dresden dar. Es ist eine öffentliche Schule in Trägerschaft der Stadt, in der 360 Schüler:innen sowohl in der Grund- als auch in der Oberschule mit einem alternativen Schulkonzept lernen können. In den wenigen Monaten, in denen die Schule existiert, hat sie bereits viel erlebt – eine aufregende Anfangsphase und zwei Shutdowns.
(K)ein Beginn mit Hindernissen
Sie liegt ein bisschen versteckt, die Universitätsschule, in einem Wohngebiet jenseits des Dresdner Talkessels, im Stadtteil Plauen. Und doch mit Nähe zur Technischen Universität. 15 Jahre lang werden hier Schüler:innen lernen, Lernbegleiter:innen lehren und Student:innen forschen. Mit dem Ziel, neue Lernmethoden anzuwenden und weiterzuentwickeln.
Doch aller Anfang beginnt mit Scheitern. Bereits 2018 sollte es losgehen. Auf der Pfotenhauerstraße sollte, in Kooperation mit der 101. Mittelschule, die Universitätsschule entstehen – die Kinder waren bereits angemeldet. Doch dann kamen Zweifel auf – vor allem, ob in einem Gebäudekomplex Platz genug für beide Schulen ist. Letztlich wurde das Projekt um ein Jahr verschoben und auf die Cämmerswalder Straße verlegt. Diesmal begann es erfolgreich. „Es gab ein großes Interesse und ein großes Vertrauen – von den Eltern und den Lernbegleiter:innen“, erzählt Maria Völzer und strahlt. Seit Januar 2020 betreut sie die Pressearbeit der Universitätsschule. „Die Initiator:innen sind gestartet mit dem Slogan ‚Schule der Zukunft‘ und damals war sie das auch, denn es gab sie noch nicht. Eltern haben ihre Kinder angemeldet und das Konzept gab es nur auf dem Papier.“
Von außen wehte diesem Konzept ein starker Wind entgegen – sie wurde als Schule für die Elite betitelt. Obwohl sie genau das Gegenteil erreichen will: Sie bildet den demografischen Durchschnitt ab. Kinder jeder Bildungsschicht sollen vertreten sein. Maria Völzer formuliert das so: „Es geht um Bedingungen für gelingendes Lernen für alle Kinder, unabhängig davon, was zu Hause passiert.“
Formal bedeutet das, dass es keine Hausaufgaben gibt – aber auch keine starren Ferien. Stattdessen reichen die Kinder bzw. ihre Eltern Urlaub ein und die Lernzeiten werden darauf abgestimmt. Maria Völzer erklärt: „Es ist wie in der Arbeitswelt – wir verpassen ja in einem gut organisierten Arbeitsalltag auch nichts, weil wir in den Urlaub fahren.“
Reformpädagogik digital weitergedacht
Herzstück des Konzeptes ist der reformpädagogische Ansatz. „Das Schulkonzept ist in dieser Form völlig neu. Wenn es einem Konzept ähnelt, dann kann man sagen, es enthält viele Elemente der Montessori-Pädagogik, aber eben digital gestützt – stark verkürzt ausgedrückt“, fasst Maria Völzer zusammen. Montessori ist ein 1907 entwickeltes pädagogisches Konzept, das der Reformpädagogik zugerechnet wird und bei dem die Kinder ihrem Alter gemäß unterrichtet werden, z. B. indem die Möbel der Größe der Kinder angepasst sind und Lernmaterialien leicht mit den Händen erreicht werden können.
Kinder streben nach Unabhängigkeit von Erwachsenen und haben einen natürlichen Hunger zu lernen. Die Erwachsenen geben beim Montessori-Konzept nichts vor. Sie führen das Kind und ermutigen es zum selbstständigen Lernen. Hier liegt die Verbindung zum Konzept der Universitätsschule – denn die Lehrer:innen heißen hier Lernbegleiter:innen. Sie „unterrichten“ die Schüler:innen – erst in Form von Werkstätten, die der klassischen Freiarbeit ähneln, und später in Projekten, die mehrere Themenbereiche verknüpfen. Das bedeutet, dass die Schüler:innen z. B. eine (fiktive) Klassenveranstaltung planen und dabei nicht nur Inhalte beschreiben, sondern auch Kosten berechnen und die Veranstaltung bewerben müssen.
Am Ende jedes Projektes steht eine Präsentation oder Abschlussaufgabe. „Die Schüler:innen werden schrittweise an die Projektarbeit herangeführt“, beschreibt Kunst- und Englischlehrerin Katrin Roch das Vorgehen. „In den Stufen 5 und 6 lernen sie Projektarbeit über grobe Mottos, der konkrete Inhalt wird erst mal weniger von den Schüler:innen bestimmt. Der Lernbegleiter ist dabei Helfer, Berater, Tippgeber. Wenn sie eine bestimmte Anzahl an Projekten gemacht haben, erwerben sie sich die Kompetenz, eigene Projektideen einzubringen. In den Stufen 7 und 8 entwickeln sie die Ideen selbst, der Lehrer bietet Material und Hilfe an. In 9 und 10 laufen die Projekte selbstgesteuert. Die Schüler:innen suchen sich einen Projektbegleiter und sagen dann nur noch, wie weit sie gekommen sind. Sie fragen den Projektbegleiter, wenn sie Hilfe brauchen.“
Die Kinder wählen die Projekte selbst. Ihr Lernfortschritt wird auf einem Lernpfad erfasst, ähnlich einem Computerspiel. Sollte das Kind das Ziel vorläufig nicht erreichen, kann es die entsprechenden Fähigkeiten in einem anderen Projekt im Laufe des Schuljahres nachholen. Denn auch die Universitätsschule ist eine Schule, die sich an die Rahmenlehrpläne des Freistaates Sachsen hält.
Mehr Möglichkeiten, mehr Verantwortung
Für die Schüler:innen bedeutet das einen Aufbruch des Klassenverbandes. Anstatt sieben Stunden täglich in derselben Gruppe zu sein, sehen sie sich im Morgenkreis in ihrer Stammgruppe. Für die Kinder ein wichtiges Ritual, ähnlich des gemeinsamen Frühstücks oder Mittagessens. Gleichzeitig lernen sie, mit verschiedenen Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten und die Aufgabenverteilung innerhalb einer Gruppe auszuprobieren. Ein weiteres Herzstück ist das Buddyprogramm, bei dem z. B. die Schüler:innen der sechsten Klasse die Neulinge der fünften die Nutzung der neuen Medien erklären.
Beim Konzept der Universitätsschule lernt das Kind das Lernen, aber auch, eigene Grenzen zu erkennen und mit den Lernbegleiter:innen daran zu arbeiten. Katrin Roch erklärt: „In den Sprachen gibt es z. B. Aufgaben, bei denen man etwas aufschreiben soll. Darauf kann man sich vorbereiten. Wenn sie ein Rollenspiel vorführen sollen, dann haben sie die Wahl: Sie können es mir vorspielen, sie können es aufnehmen, sie können einen Film drehen. Sie brauchen dann natürlich ein zweites Kind, aber sie können das auch mit mir machen – das nehmen auch manche wahr.“ Ähnlich verhält es sich mit der Gruppengröße. Während manche Kinder anfangs damit überfordert sind, mit anderen zusammenzuarbeiten, können sie sich von Projekt zu Projekt steigern.
Und auch die Frage nach dem Digitalen und dem Analogen beantwortet Katrin Roch differenziert. „Es gibt Kinder, die vermeiden Digitales, wo es nur geht – sie füllen Arbeitsblätter lieber handschriftlich aus oder gestalten Poster. Wir bieten immer beides an. Es gibt nach wie vor laminierte Arbeitsblätter, es gibt aber auch bearbeitbare PDFs.“ Wenn die Schüler:innen Aufgaben digital einsenden sollen, dann fotografieren sie ihre Ergebnisse.
Flexible Problemlösung
Doch was passiert, wenn sich Schüler:innen nicht an Regeln halten, sogar auffällig werden? Am Anfang steht dabei die gewaltfreie Kommunikation – und im Mittelpunkt die soziale Gruppe. Katrin Roch beschreibt: „Wenn ich einschätze, dass die Gruppe das nicht aushalten kann, dann wähle ich erst mal die Variante, dass ich mit dem Kind rausgehe. Dann versuche ich zu ergründen, was da los ist. Wenn ich das Kind gar nicht erreichen kann, zeige ich ihm die Möglichkeiten auf: Es kann zu unserer Sozialarbeiterin gehen, es kann in einen Raum gehen und sich dort mit einem Spiel oder einem Buch beruhigen, und wenn es einschätzt, dass es gar nicht geht, dann rufe ich die Eltern an. Das Kind hat immer die Wahl.“
Funktioniert das nicht, hat auch die Universitätsschule die Möglichkeit, Strafen auszusprechen. „Es wird aber anders verpackt“, erzählt Katrin Roch. „Ich habe schon Schulausschlüsse erlebt, aber daran war immer geknüpft, dass wir mit den Eltern reden und herausfinden, ob das Kind die Situation in der Schule momentan nicht bewältigen kann. Es muss dann erst mal einen Weg finden, mit den wechselnden Gruppen oder der neuen Schule so klarzukommen, dass es das aushalten kann. Die Eltern sollten mit dem Kind thematisieren, warum das so schwierig ist. Und keinen Lerndruck aufbauen. Wenn die Eltern signalisieren, dass das Kind weiterarbeiten will, aber noch nicht wieder in die Schule kann, dann kriegt es Aufgaben für zu Hause. Wir wollen nicht, dass sich die Kinder aus Angst konform verhalten, sondern dass sie eine andere Strategie für ihr Problem finden.“
Über das flexible System können auch Kinder mit Inklusionsbedarf integriert werden. „Wir haben Kinder, die mit Förderplänen unterrichtet werden, aber es gibt im Augenblick noch keine exklusiven Förderkurse, weil der Bedarf anders gedeckt werden kann“, erklärt Katrin Roch. „Wir haben autistische Kinder mit Lernbegleiter:innen, die in der Gruppe oder allein mit Hilfe des Lernbegleiters arbeiten, später auch ohne Hilfe. Aber ihr persönlicher Begleiter ist in Sicht- und Hörweite und kann eingreifen. Sie haben die Erlaubnis, immer so weit zu gehen, wie sie sich das zutrauen. Wenn jemand Russisch machen will, dann darf er das. Er darf das probieren, so weit, wie er eben kommt.“
Auf der Seite der Lernbegleiter:innen bedeuten Projekte, dass sie mit den Kolleg:innen fachübergreifend zusammenarbeiten. In der Oberschule haben fast alle Lernbegleiter:innen Kompetenzen in zwei Fächern. In der Grundschule können sie Deutsch, Mathe und Sachkunde vermitteln. Außerdem gibt es einen Experten für Kunst und mehrere für Musik. Diese Kenntnisse geben sie in die Projekte. Wenn zum Beispiel Aufgaben im Bereich Kunst gebraucht werden, dann entwickeln die entsprechenden Fachlehrer:innen Aufgaben und fügen diese dem Projekt hinzu. Dabei wird das Lernmaterial so aufbereitet, dass es der Lernbegleiter des Projektes vermitteln kann und alle Schüler:innen auch in diesem Aspekt unter den gleichen Bedingungen arbeiten können. Was im Frontalunterricht funktioniert, muss für das Konzept umgestaltet werden. Oder, wie Maria Völzer es ausdrückt: „Die Lernbegleiter:innen erfinden die Schule jeden Tag neu.“
Erforschung der Lehre
Doch nicht nur Lernbegleiter:innen kreieren Neues, auch Student:innen. Sie bringen sich einerseits über die Ganztagsangebote ein, bieten Kurse an, mit denen z. B. der Schulgarten geplant wird. Andererseits gibt es Forschungsseminare, im vergangenen Schuljahr z. B. „Forschen in der Universitätsschule“. Dabei lernten die Studierenden an einem konkreten Beispiel, wie man eine Forschungsfrage formuliert und mit welchen Methoden man sie beantwortet, etwa mit Fragebögen, die ausgewertet werden.
Eine weitere wichtige Säule der Schule sind die Eltern. Sie stehen besonders in der Corona-Zeit in engem Kontakt zueinander, vernetzen sich. Doch ihre Motivation, die Kinder auf die Schule zu schicken, ist unterschiedlich. „Es gibt Eltern, die nehmen die Schule, weil sie in der Nähe ist“, erzählt Maria Völzer. „Viele Eltern wählen die Schule aber bewusst, weil sie wollen, dass ihr Kind das Lernen lernt und Probleme löst, damit es im Leben, auch im Berufsleben, bestehen kann.“ Manche Kinder kommen dafür sogar aus Nossen oder der Nähe von Bad Schandau.
Um all die Bausteine zusammenzufügen, die digitale und analoge Welt des Lernens, bedarf es nicht nur eines Medienführerscheins, den die Kinder in Klasse 5 erwerben, sondern auch eines computergestützten Überbaus in Form einer schuleigenen Software. Mit Hilfe dieser werden Projekte geplant, Urlaubszeiten eingetragen, aber es wird auch kommuniziert. Dafür hat die Schule ein eigenes Datenschutzkonzept entwickelt.
Bewährungsprobe Corona
Und dann kam Corona. Für die Universitätsschule „ein Glücksfall“, sagt Katrin Roch und Maria Völzer führt aus: „Es ist ein Glücksfall, dass die durch Corona bedingte Schulschließung nicht früher kam, sondern erst in einem Moment, in dem sowohl Schüler:innen als auch Lernbegleiter:innen und Eltern bereits in die Lern- und Schulmanagement-Software eingeführt waren. Die Kinder der höheren Klassen hatten auch schon den Laptop-Führerschein gemacht. Die Kommunikation war über das Portal sofort möglich und die Schule konnte die Eltern bei der Organisation des Homeschoolings direkt unterstützen. Die Kinder konnten mit den Lernbegleiter:innen direkt in Kontakt treten und auch Projektergebnisse hochladen.“
Doch auch für die internen Prozesse hatte das Virus laut Maria Völzer eine gute Seite: „Wir hatten durch den Lockdown die Möglichkeit, acht Stunden am Tag digital zusammen am Konzept, am Regelwerk für den Ablauf der Werkstätten, des Projekts usw. zu arbeiten.“ Katrin Roch beschreibt es aus Sicht einer Lernbegleiterin: „Ich sehe das ähnlich. Aber der Glücksfall war auch, dass wir das Portal auf diese Weise umfassend testen konnten und gezwungen waren, uns alles schnell anzueignen und herauszufinden.“
Für den Forschungszweig der Universitätsschule sehe laut Maria Völzer auch Projektleiterin Prof. Anke Langner gewisse Vorteile. „Für das Forschungsprojekt ist eine solche Ausnahmesituation insofern ein ‚Glücksfall‘, dass in der Lern- und Schulmanagement-Software Daten über zahlreiche Prozesse wie Organisationsentwicklung, Lernprozesse etc. erhoben werden. Diese können in einem regulären Schulalltag, den natürlich alle Beteiligten viel lieber gehabt hätten, nicht entstehen. Man kann sagen, so hat diese herausfordernde Situation wenigstens auch etwas Gutes.“
Für die Eltern war die Situation nicht immer einfach, manchmal überfordernd. Sie wussten nicht, wie sie die 10 bis 15 Aufgabenblätter, die für eine Spanne von vier bis fünf Wochen vorgesehen sind, auf die einzelnen Schultage verteilen sollten. Hinzu kommt: „Die Schüler:innen können selbst entscheiden, wie viele der Aufgaben sie in Vorbereitung der Schlussaufgabe brauchen und lösen“, erklärt Katrin Roch. Auch das musste erst vermittelt werden.
Allerdings hat die Schule während des ersten Shutdowns auch versucht, den realen Kontakt zwischen den Schüler:innen aufrechtzuerhalten – in Form von festen kleinen Gruppen, die binnen 14 Tagen zwischen den jeweiligen Eltern und der Schule hin- und herpendelten. Die Kinder erhielten Einblicke in ein anderes Leben, gleichzeitig wurden Infektionsketten durch die geringe Gruppengröße und die gesunkene Anzahl der Schüler:innen im Schulgebäude kurzgehalten. Und die Eltern wurden entlastet, weil sie ihr Kind statt an zehn nur an einem Tag während der Schulzeit betreuen mussten.
Schule mit Aussicht?
Und was bringen die nächsten Jahre? Katrin Roch blickt in die Zukunft: „Unser Ziel ist, entweder selbst eine gymnasiale Oberstufe hinzubekommen oder die Kinder so vorzubereiten, dass sie ab der elften Klasse an ein Gymnasium, das mit uns zusammenarbeitet, wechseln können.“
Ob die Schule nach dem Ende des Versuchs weitergeführt wird, wird noch entschieden. Maria Völzer erklärt: „Der Schulversuch bedeutet vor allem, dass in dieser Zeit im Forschungsprojekt an der TU Dresden digital gestützt Daten über die Lernprozesse, aber auch Erkenntnisse über die Organisationsentwicklung in der Universitätsschule erhoben werden. Im Idealfall besteht nach Ende der 15 Jahre sowohl die Schule in Dresden als Ort mit innovativen Lehr- und Lernformaten und einer zeitgemäßen Schulkultur weiter als auch die Aus- und Fortbildungsschule der TU Dresden und das Reallabor Universitätsschule. Aus dem Forschungsprojekt können dann weiterhin Erkenntnisse und Impulse für die Schule der Zukunft an Bildungseinrichtungen in Sachsen und Deutschland gegeben werden. Ein wichtiger Faktor für die Planung sind auch die Schüler:innenzahlen. Abhängig von der Entwicklung bis zum Schuljahr 2034/35 entscheiden das Landesamt für Schule und Bildung und die Stadt Dresden, ob am Standort Plauen eine Grund- und Oberschule weiterhin notwendig sind.“
Text: Vivian Herzog
Zum Titelfoto: Maria Völzer ist Kommunikationsmanagerin im Forschungsprojekt Universitätsschule Dresden.
Fotos: Amac Garbe