Ich bin gerade aufgewacht und ertaste irgendwo zwischen all den Gedanken, die wie jeden Morgen auf mich einrieseln, eine vage Erinnerung. Nicht zu hastig, denke ich jetzt, sonst verpufft diese Erinnerung, noch bevor ich sie richtig greifen kann. Sie schwebt vor mir wie eine Wolke, ein Wasser-Gas-Gemisch, das ich zwar wahrnehmen, aber dennoch nicht berühren kann. Langsam umkreise ich diese Wolke, nähere mich ihr von allen Seiten und erhoffe, so einen Blick in ihr Inneres zu werfen. Und tatsächlich: Ich merke, wie ich nach und nach immer weiter hineingelange in die Wolke, die sich als ein Traum der vergangenen Nacht offenbart.
Ich stehe auf einer Wiese, umgeben von Menschen, unzähligen Menschen. Der Kontext ist mir entfallen. Wie so oft ist es nur eine Sequenz, ein Ausschnitt des Traumes, an den ich mich am nächsten Morgen erinnern kann. Ich weiß nicht, was ich hier mache, wie ich hierhin gelangt bin. Doch plötzlich breite ich meine Arme aus wie ein Vogel, beginne sie wie Flügel zu heben und zu senken, bis ich tatsächlich vom Boden abhebe und mich in die Lüfte begebe. Von oben sieht alles kleiner aus. Ich drehe meine Bahnen über den Köpfen der Menge unter mir, ohne mir wirklich darüber im Klaren zu sein, ob diese mich wahrnimmt.
Auch wenn wir uns nicht immer an unsere Träume erinnern können, so gilt es heute in der Schlafforschung doch als sehr wahrscheinlich, dass wir jede Nacht träumen. Dabei verarbeiten wir nicht nur aktuelle Erlebnisse, sondern verknüpfen diese ebenso mit vergangenen Erfahrungen. Teilweise kann das zu recht bizarren Szenarien führen oder – wie in meinem Fall – zu Situationen, die so im realen Leben gar nicht möglich wären. Die große Frage lautet jedoch nach wie vor: Erfüllen Träume eine bestimmte Funktion?
Die Wissenschaft ist sich darüber uneinig. Während die einen glauben, dass Träume nur als ein Nebenprodukt entstehen, wenn das Gehirn in der Nacht neue Informationen speichert, sind die anderen fest davon überzeugt, dass ihnen eine viel größere Bedeutung zukommt. Demzufolge sei das Träumen ein mentales Trainingsprogramm, das uns helfen soll, Ängste oder Herausforderungen im Alltag besser zu meistern. Es lohnt sich also, einmal genauer hinzusehen und Licht in das Dunkel des nächtlichen Wirrwarrs zu bringen. Sich dabei jedoch auf einzelne Elemente zu versteifen, kann leicht zur Gefahr werden. Vielmehr gilt es, Gefühle oder wiederkehrende Handlungsmuster zu identifizieren und diese mit dem, was im Wachleben geschieht, in Verbindung zu setzen. Denn eine kontextfreie Interpretation, die die Lebensumstände des Träumenden außer Acht lässt und so eine allgemeingültige Deutung verspricht, könnte schnell in die Irre führen.
Kommen wir zurück zu meinem Traum. Das Fliegen begleitet mich schon eine geraume Zeit, ich meine sogar, es bereits vor Jahren in einigen Träumen getan zu haben. Eine rückblickende Deutung scheint mir nicht möglich. Zu verwaschen ist das Ganze. Die Zuordnung zu einem bestimmten Lebensabschnitt fällt mir schwer. Schauen wir also auf das Heute. Traumdeutungshilfen gibt es im Internet wie Sand am Meer oder Horoskope in Zeitschriften. Manch einer mag das Ganze für esoterischen Quatsch halten, ich aber lasse mich darauf ein und beginne zu recherchieren.
Zunächst einmal wird deutlich: Träume vom Fliegen sind alles andere als selten, variieren jedoch stark in ihrer Ausprägung. Nicht nur gilt es zu klären, wer oder was fliegt, sondern auch wie. In meinem Fall ganz klar: Ich bin es selbst, die ohne Hilfsmittel einfach in die Lüfte abhebt. Ganz allgemein ist es so, dass das Fliegen häufig mit Freiheit assoziiert wird. Davon sang schon Reinhard Mey in seinem Klassiker „Über den Wolken“. So überrascht es mich auch nicht sonderlich, als ich lese, dass das Fliegen nach oben Richtung Himmel die Sehnsucht nach einem Lebenswandel ausdrückt. Hier ziehe ich erste Parallelen zu meinem Leben. Nach Monaten der Arbeitslosigkeit und der gleichzeitigen Isolation durch die Corona-Krise sehne ich mich tatsächlich nach weitreichenden Änderungen. Und auch beim Weiterlesen muss ich mit Erstaunen feststellen, wie ich mich selbst wiedererkenne. Im Traum gezielt und gesteuert durch die Lüfte schweben zu können, deutet darauf, dass man gern die Kontrolle in seinem Leben hat. Noch heute Morgen sagte mein Vater am Telefon zu mir: „Ich weiß, dass Du auf die Sicherheit im Leben setzt. Die gibt es aber nicht.“
In letzter Zeit hatte ich oft das Gefühl, dass mir die Kontrolle über mein Leben entgleitet. Ich war gefangen in meinem Selbstmitleid, in der Resignation über die aktuelle Situation. Doch etwas hat sich geändert. Ich fange an zu begreifen, dass ich auch im wahren Leben – im Wachzustand – meine Flügel ausbreiten muss, um den angestrebten Wandel zu erreichen. Sicher kann dabei ein wenig Rückenwind nicht schaden, aber der Motor bin ich selbst.
Ich möchte diesen Text mit den letzten Sätzen aus Benedict Wells‘ Roman „Spinner“ schließen; dessen Erstlingswerk, geschrieben mit neunzehn Jahren und nebenbei bemerkt eines der besten Bücher, das ich in letzter Zeit gelesen habe, was wohl auch daran liegen mag, dass ich mich mit einigen Charakterzügen der Hauptfigur direkt identifizieren konnte (und sei es die seltsame Angewohnheit, auf dem Gehweg nicht auf die Pflasterfugen treten zu wollen …).
„Wichtig war nur, dass ich nicht mehr stillstand, dass ich mich den Dingen wieder stellte, egal, was aus mir werden würde. Denn alles andere wäre falsch, denke ich, unecht, irgendwie so, wie wenn man verrauchte Luft einatmet. Man kann damit leben, aber es ist nicht das Wahre, man atmet nicht so tief ein, wie man könnte.“
Text: Marie-Luise Unteutsch
Foto: Amac Garbe