Geteiltes Leid

Als ich einen Antrag beim Studentenwerk stellte, damals im Januar 2019, wusste ich noch nicht, wo die St. Petersburger Straße liegt. Ich wusste auch nicht, wie die Studentenwohnheime aussehen. Ich wählte diese Straße, weil mein Heimatort in Russland Sankt Petersburg ist. Ich fand es lustig, von dort zu stammen und auf der St. Petersburger Straße in Dresden zu  wohnen. Per E-Mail kam die Benachrichtigung, dass das Studentenwerk mir ein Zimmer auf der St. Petersburger Straße 21 gibt und dass es eine 8er-WG ist. Mein Umzug ins Wohnheim war im März.

Als ich einzog, waren noch Ferien. Die Straße befindet sich in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Lage ist schön, weil es viele Einkaufsmöglichkeiten gibt und Altstadt und Neustadt nicht so weit weg sind. Die Wohnheime auf der St. Petersburger Straße sind sehr international, weil viele Erasmus- und DAAD-Student*innen dort wohnen. Der einzige Mann, den ich im März sah, war ein Erasmus-Student aus Italien. Wir standen zu zweit in der Küche und wussten nicht, welche Kühlschränke noch frei sind und welche Regale wir benutzen dürfen. Alles war neu. Im April kamen dann sechs andere Student*innen. Am Anfang lebten in meiner WG Student*innen aus dem Iran, Deutschland, Italien und Russland. Einmal pro Woche kochten wir alle zusammen, damit wir uns besser kennenlernen konnten. Es waren nicht immer alle beim gemeinsamen Essen anwesend, aber wir unternahmen mehr, als nur am Tisch zu sitzen und zu essen. Wir waren in der Neustadt. Im Sommer grillten wir an der Elbe. Wir gingen auch zusammen einkaufen, was sehr praktisch war.

Dann kamen die Sommerferien. Viele sind nach Hause gefahren. Im Oktober sind vier von uns ausgezogen. Einer wollte mit den Kumpels zusammenwohnen, eine andere in die Neustadt ziehen und zwei hatten ein Praktikum in anderen Bundesländer gefunden. Nachdem ich im Wintersemester 2019 meine Regelstudienzeit überschritten hatte, bekam ich die Möglichkeit, als Untermieterin in derselben WG ein anderes Zimmer zu benutzen. Neue Mitbewohner*innen aus Berlin, Frankreich und dem Libanon kamen. Unsere gemeinsame Kochzeit blieb.

Ende Februar/Anfang März kam Corona. Ich konnte im Kindergarten, wo ich als studentische Aushilfe tätig war, nicht mehr arbeiten. Ich hatte Existenzangst. Ich fürchtete, meine Miete nicht bezahlen zu können. Andererseits war die Corona-Zeit die beste Zeit meines Lebens. Ich habe niemals in meinem Leben so gelacht. Ich war niemals zuvor so eng mit Menschen zusammen. Ich habe so viele lustige Geschichten von Erasmus-Student*innen gehört. Nicht nur meine Mitbewohner*innen aus dem Ausland, sondern auch aus Deutschland waren fast alle da. Die Grenzen waren geschlossen. Meine Untermiete wurde verlängert, weil der eigentliche Bewohner meines Zimmers nicht nach Dresden kommen konnte. Die Onlinelehre begann. Wir waren in den eigenen vier Wänden eingesperrt.

Die ersten Tage war ich wirklich nur im Zimmer, das 12 m² groß ist. Ich hatte Mitleid mit den Menschen, die im Knast sitzen, weil sie vermutlich die gleiche Zimmerfläche haben und vermutlich wie ich langsam verrückt werden. 24 Stunden in einem Zimmer zu sitzen ist echt merkwürdig. Eine Woche nach der Corona-Meldung haben wir angefangen, uns in der Küche zu treffen. Natürlich waren wir nicht acht Personen zur gleichen Zeit. Wir trafen uns zu dritt. Wir haben fast jeden Tag etwas zusammen gekocht. Manchmal saßen wir gemeinsam in der Küche, ohne ein Wort zu sagen. Manchmal konnten wir unsere Nachbarn hören, wie sie auf dem Balkon Gitarre spielten. Manchmal haben wir auch die Nachbar-WG zu uns eingeladen. Manchmal gingen wir zu ihnen. So viele Nationalitäten in einem Raum habe ich noch nie gesehen. So viele Sprachen habe ich nie gehört. So viele kurze Beziehungen wie One-Night-Stands oder Sexualpartner*innen für ein paar Wochen entstanden. Einige davon bezeichneten diese Beziehungen als Corona Time oder Corona-Freund oder -Freundin. Unser Wohnheim roch heftig nach Marihuana.

Doch dann musste ich umziehen, weil der eigentliche Mieter meines Zimmers endlich nach Dresden kommen konnte. Dennoch: Während Corona hatte ich Zeit für mich selbst. Was mir in den vergangenen Jahren fehlte. Und diese Zeit hat uns alle zusammengebracht.

Text: Anna Shtutina

Foto: Amac Garbe

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