Ein Corona macht noch keine Kunst

Es ist Samstagabend. Ich kämpfe mich durch die Masse der Masken in der Bahn und auch wenn ich mich wie in einer Kunstgalerie fühle, bin ich seltsam bedrückt. Es ist weniger die Angst vor hustenden Menschen als das ständige Gefühl, dass das die Ruhe vor dem Sturm ist. Aber heute will ich fröhlich sein! Die Regelungen sind gelockert und der Studentenclub meiner Wahl hat zur feierlichen Wiedereröffnung geladen. Am Eingang werden stylische Masken mit fetzigen Sprüchen wie „Wer nähen kann, kann auch …“ verkauft und an der Bar erwartet mich ein reichhaltiges Angebot thematisch passender Cocktails. Ob „Covidaiquiri“, „Sex in the Schutzanzug“ oder „Ostsee Libre“ – die Auswahl ist unendlich, der Alkoholgehalt abhängig von der Beziehung zum Barkeeper.

Ich bekomme einen Tisch zugeteilt und gegen ein kleines Entgelt ein Quadrat auf der Tanzfläche. Ein DJ-Trio hat sich auf der Bühne versammelt und spielt auf seinen Laptops die neu abgemischten Beats der 80er, 90er und das Beste von heute. Die Stimmung ist gut, der Schweiß fließt in Strömen und wir tanzen in unseren Quadraten, als hätte es Corona nie gegeben. Heute bin ich frei. Ich werfe meine Arme in die Luft und verrenke mich, als würde ich die Festigkeit meiner Bänder ausreizen wollen. Keiner, der mich anrempelt, keiner, der sich an mich schmiegt. Und keinem, dem es peinlich ist, nur mit dem Fuß zu wippen. Auf der regelkonformen Tanzfläche sehen wir aus wie ein Code: ein Aufblinken von Bewegungen, sortiert und abgespeichert, wiederholend, rhythmisch, gleichmäßig. Ein Typ im Hoodie lächelt mich an. Ich freue mich, lächle zurück, proste ihm zu. Unter normalen Umständen hätten wir erst Worte, dann Körperflüssigkeiten ausgetauscht, idealerweise im Raucherraum, weil Nikotin Nervenzellen killt und vielleicht auch Viren, aber hier bleibt uns nur erotischer Augenkontakt und ein laszives Streicheln über die Maske. Das gemeinsame Erleben des schönsten Augenblicks seit zwei Monaten.

Ich wache auf. Es ist Samstagvormittag und die Stadt voll. Touristen, Menschen mit Kinderwagen, Menschen mit Partnern und Hunden laufen über die Bürgersteige und schießen Nach-Corona-Selfies. Stadtführungen finden statt, Straßenkünstler freuen sich über viele Euros. Äußerlich wirkt alles normal. Selbst der Kaffee im Restaurant meiner Wahl ist kein Problem – das Angebot ist reichhaltig, die Kellner sind nett. Auffällig nur, dass die Speisekarte digital verfügbar ist – Menschen ohne Smartphone müssen nachfragen und das Personal irritieren. Plötzlich fällt mir auf, wie laut die Stadt ist – überall reden Menschen, schreien Kinder, hupen Autos und klingeln Bahnen. Herrschte vorher eine stille Gemeinschaft derer, die zum Arbeiten rausgehen und offline einkaufen, stehe ich jetzt einer Flut von Eindrücken gegenüber, an die ich mich wieder gewöhnen muss.

Und der Schein trügt. Einkaufen mit Maske macht keinen Spaß. Die Unsicherheit bleibt. Das Gefühl, sich hinter einer Maske nicht nur verstecken zu können, sondern eingesperrt zu sein. Aber am schlimmsten: Der Kultur haben die Lockerungen wenig geholfen. Bis Hygienekonzepte entwickelt sind, dauert es. Und die ersten Klubs und Kulturräume haben vermeldet, dass sie nicht öffnen werden. Weil durch den Abstand zu wenige Leute reinpassen. Weil die Hygiene aufwendig ist und schwer umsetzbar. Und vielleicht auch, weil sich keine Stimmung aufbaut, wenn überall Regeln eingehalten werden müssen. Wie kann man Theater ohne Körperkontakt spielen? Wie gewährleiste ich auch für mich als Zuschauer, dass mir keiner näherkommt, als er sollte? Was müssen wir aufgeben, um wieder Kultur genießen zu können?

Corona hat der Kunst neue Impulse gegeben. Künstler, die feststellen, dass Streaming-Konzerte vom Wohnzimmer aus Vorteile haben; dass man ohne physisches Publikum mehr bei sich ist und die Anzahl der Instrumente nicht auf die Größe des Kofferraums beschränkt bleibt. Theater, die die ganze Bandbreite ihrer Inszenierungen online zeigen können. Schauspieler, die Quarantäne-Stücke kreieren oder Hörbücher einlesen. Kulturräume mit Ausstellungen, die man durch das Schaufenster betrachten kann. Corona hat der Kultur aber auch einiges genommen. Zuschauer, die sich nicht heraustrauen oder um die eigene Existenz kämpfen. Kulturschaffende, die ihren Job verlieren. Ehrenamtliche, die merken, dass ein Leben ohne Engagement traurig, aber machbar ist.

Wie sieht die neue Welt aus, in der wir leben? Nach weiteren Lockerungen, nach einem „Ende“? Wer wird bleiben, wer wird kommen? Wie verändern sich Gewohnheiten und Erwartungen? Und was passiert, wenn sich der Wunsch nach Kultur, Kreativität und Kontakt Bahnen bricht?

Mein Wunsch, in einer Bar einen Cocktail zu trinken und zur Musik zu tanzen, ist erst mal nur ein Traum. Aber ich freue mich, wenn er wahr wird. Liebe Kreative, Klubs und Künstler: Ich vergesse Euch nicht.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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