Wenn Bürgerrechte teuer werden

Hanau. Halle. Chemnitz. Freital. Zwickau. Rostock-Lichtenhagen. Sieben von unzähligen Gründen, laut zu sein. Immer wieder, bis endlich, endlich etwas passiert.

Ich war in den vergangenen Jahren nicht oft auf Demonstrationen, weil ich meist das Gefühl habe, rumschreien bringt ja doch nichts. Mittlerweile sehe ich das ein bisschen anders. Wie viel Plakate hochhalten und Parolen rufen, die meist viel zu kurz greifen, ändern kann, dessen bin ich mir nicht sicher. Aber ich bin wütend, traurig und vor allem sehr hilflos. Irgendetwas muss ich tun. Mindestens solange, bis mir etwas Konstruktiveres einfällt, wird das sein: Draußen auf der Straße stehen, so oft ich kann, und aus vollem Hals gemeinsam mit all jenen zu schreien, die genauso verzweifelt sind wie ich.

Das ist mein Recht. Ohne die Freiheit jeder Person zu demonstrieren, sich zu versammeln, ihre Meinung laut zu äußern wird es eng in einer Demokratie. So weit, so gut. Aber es gibt noch ein Problem. Wir haben es seit Oktober 2019. Es heißt „Gebührenordnung für die Bundespolizei“ und kann eine echte Einschränkung für mein, Dein, unser Recht zu demonstrieren werden.

Denn mit der neuen Gebührenordnung kann erstmals auch die Bundespolizei Gebühren erheben. Im Klartext bedeutet das: Wenn eine Bundespolizist*in beispielsweise am Bahnhof vor einer Demonstration die Identität von Demonstrierenden feststellt, kann das kosten – laut Gebührenordnung genau 53,75 Euro.

Auf Demonstrationen sind eigentlich keine Bundes-, sondern Landespolizist*innen unterwegs. Für Einsätze der Landespolizei muss man (bisher) nichts zahlen (außer den Besuch in der Ausnüchterungszelle). Bundespolizist*innen können auf Demonstrationen mithelfen, wenn die Landespolizei sie darum gebeten hat. Dann gilt jedoch laut Vice die Gebührenverordnung der Landespolizei und man läuft nicht Gefahr, zahlen zu müssen.

Die Bundespolizei ist aber auf Flughäfen und Bahnhöfen zuständig, über die Demonstrierende und beispielsweise auch Fußballfans oft anreisen. Wer dort mit der Bundespolizei „in Kontakt“ kommt, hat danach trotzdem eine Rechnung im Briefkasten. Ein mündlicher Platzverweis kostet 44,65 Euro. Eine schriftlicher beim ersten Mal 88,85 Euro. Muss man sich leisten können. Dazu kommt: Auch die Landespolizeien schielen auf die neue Regelung der Bundespolizei. Abgeneigt, selbst etwas ähnliches einzuführen, sind sie nicht.

Die Polizei schreibt, sie erwartet sich von den neuen Regelungen einen Erziehungseffekt. Es deutet sich aber noch ein anderer Begleiteffekt an: Dass nur noch diejenigen demonstrieren gehen, die es sich leisten können. Die keine Angst vor einer dreistelligen Rechnung haben müssen, die danach ins Haus flattert. Dass aber die, die ohnehin schon zu kämpfen haben, noch mehr benachteiligt werden: bildungsfernere Schichten, Menschen mit Migrationshintergrund. Denn auch das Hinzuziehen eines/r Dolmetscher*in ist mit der neuen Gebührenordnung kostenpflichtig.

Zahlen muss man auch, wenn man am Bahnhof oder Flughafen beispielsweise seinen Koffer eine Weile unbeaufsichtigt lässt und damit unabsichtlich einen Einsatz der Bundespolizei auslöst – simple Fehlbarkeit, Unachtsamkeit. Menschlichkeit eben. So soll eine Frau aus Nordrhein-Westfalen laut Westdeutscher Zeitung 550 Euro zahlen, weil sie ihren Koffer im Düsseldorfer Hauptbahnhof vergessen hatte.

Hinter der Existenz der Polizei steckt der alte Gedanke von Cicero, Hobbes, Locke, Rousseau, auf dem das Konstrukt des modernen Staates beruht: der Gesellschaftsvertrag. Demnach wollen wir Menschen eigentlich nur Frieden und unsere Ruhe, gleichzeitig können wir aber auch ganz schöne Arschlöcher sein. Ohne jemanden, der für Ordnung sorgt, würden wir immer nur gegeneinander kämpfen (Hobbes‘ „Krieg aller gegen alle“).

Um nicht in einem ewigen Zustand der Unsicherheit leben zu müssen, schließen wir also einen Handel (den Gesellschaftsvertrag) und schaffen Institutionen wie das Parlament, Gerichte, die Polizei, um sicherzustellen, dass wir in Frieden leben können. Wir geben diesen Institutionen Macht über uns im Tausch gegen Frieden. Aktuell geben wir ihnen auch Geld in Form von Steuern, damit sie ihre Aufgabe bestmöglich erledigen.

Durch die neue Gebührenordnung soll verhindert werden, dass Einsätze, die „vermeidbar“ und einem Einzelnen individuell zurechenbar sind, durch die Allgemeinheit finanziert werden. Für einige mag das lange nötig gewesen sein. Für mich weicht die neue Regelung damit eines der Grundprinzipien unseres Staates auf: das Solidarprinzip. Das Prinzip, dass es für alle zusammen leichter ist, Fehler oder Probleme eines/r Einzelnen zu tragen. Die Aussicht, dass die staatlichen Institutionen für jede*n von uns da sind, wenn es mal nötig ist. Auch dafür zahle ich, zahlen wir Steuern. Von denen die Leistungen der Bundespolizei eigentlich schon finanziert werden.

In der Öffentlichkeit findet die neue Gebührenordnung, die immerhin seit Oktober gilt, erst langsam Raum. Kommentare und Artikel zu dem Thema gibt es nur wenige, von einer Demonstration habe ich bisher noch nichts mitbekommen. Vielleicht traut sich jetzt auch einfach keiner mehr. Könnte ja teuer werden.

Text: Alisa Sonntag

Foto: Amac Garbe

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