Campuskolumne

Seit mehreren Jahren trage ich einen Organspendeausweis in meinem Portemonnaie mit mir herum. Unausgefüllt. Wann genau er dorthin gelangt ist, weiß ich nicht mehr. Irgendwann einmal, so meine ich mich zu erinnern, lag er einem Schreiben meiner Krankenkasse bei. Seitdem jedenfalls fällt er mir in regelmäßigen Abständen immer mal wieder in die Hände. Zum Beispiel, wenn ich zwischen Bonuskarten, 50-Cent-Vouchern von diversen Autobahnraststätten und alten Kassenzetteln die Visitenkarte meines Zahnarztes suche. Dann mahnt er mich kurz, weil ich diese Entscheidung noch immer vor mir herschiebe, und verschwindet wieder dort, wo er hergekommen ist.

So wie mir geht es womöglich vielen Deutschen. Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2018 hatten 56 Prozent der Befragten zu diesem Zeitpunkt bereits eine Entscheidung getroffen, 39 Prozent dokumentieren diese auch, mehrheitlich im Organspendeausweis, ein kleiner Teil zusätzlich oder ausschließlich in einer Patientenverfügung. Von diesen 56 Prozent (Entscheidung dokumentiert und nicht dokumentiert) stimmten insgesamt 72 Prozent einer Organ- oder Gewebespende nach ihrem Tod zu, das entspricht 41 Prozent der Gesamtheit an Befragten. Doch prinzipiell standen ganze 84 Prozent den Spenden positiv gegenüber, 72 Prozent gaben sogar an, grundsätzlich mit einer Entnahme am eigenen Körper nach dem Tod einverstanden zu sein. Woher also kommt diese Diskrepanz zwischen den hypothetischen Angaben in der Umfrage und den tatsächlich getroffenen Entscheidungen?

Man kennt das Phänomen: Wie viele Leute befinden es für gut und richtig, bei Übergriffen oder Gewalttätigkeiten auf offener Straße dazwischenzugehen, würden aber selbst nicht eingreifen? Vermutlich die meisten. Der Grund: Angst. Während die Angst in diesem Fall jedoch sehr konkret ist, man fürchtet, selbst körperlichen Schaden zu nehmen, scheint sie im Falle einer Organspende eher diffus. So zumindest mein persönlicher Eindruck. Denn natürlich weiß ich, dass ich zum Zeitpunkt einer Entnahme bereits tot wäre und dementsprechend nichts mehr zu befürchten hätte, aber dennoch ist da dieses mulmige Gefühl, wenn ich daran denke, irgendwo in einem Operationssaal auseinandergenommen und anschließend wieder zusammengeflickt zu werden. Diese diffuse Angst rührt wohl daher, dass ich zu wenig über den Prozess der Spende weiß. Was aber hält mich davon ab, mich eingehend mit dem Thema zu beschäftigen? Ist es der Gedanke an den eigenen Tod, der unweigerlich damit verbunden ist? Oder aber die Furcht davor, anschließend noch mehr Bedenken zu haben? Vielleicht eine Mischung aus beidem.

In vielen europäischen Ländern ist die Organ- und Gewebespende gesetzlich anders geregelt als in Deutschland. So gilt zum Beispiel in Frankreich, Italien und Spanien die Widerspruchslösung. Das bedeutet, dass Verstorbenen Organe zur Transplantation entnommen werden dürfen, wenn die Person zu Lebzeiten einer Spende nicht ausdrücklich widersprochen hat. Doch auch in Deutschland wird derzeit über eine Änderung der Regelung diskutiert, wobei zwei Gesetzesentwürfe im Bundestag eingereicht wurden. Einer der Entwürfe, ausgehend von einer Gruppe um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, sieht ebenfalls eine doppelte Widerspruchslösung vor. Hat der Bürger zu Lebzeiten keinen Widerspruch erklärt und ist auch den nächsten Angehörigen kein entgegenstehender Wille bekannt, ist die Organentnahme erlaubt. Demgegenüber steht ein Entwurf, der durch verschiedene Maßnahmen eine Stärkung der Entscheidungsbereitschaft vorsieht.

Für welche Variante ich mich entscheiden würde? Schwer zu sagen. Sicherlich kann man erwarten, dass sich jeder über das Thema informiert, doch reicht ein Schweigen aus, um als Zustimmung zu gelten? Sollte nicht in erster Linie daran gearbeitet werden, den Bürgern mögliche Hemmungen und Ängste zu nehmen, anstatt ihnen die Entscheidung quasi abzunehmen? Warum nicht bereits in der Schule, beispielsweise im Rahmen des Biologieunterrichts, über Organspenden aufklären? Oder, wie in einem der Entwürfe vorgesehen, verstärkt darauf setzen, dass auch Hausärzte ihre Patienten gezielt ansprechen? Wie der Bundestag sich entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Ich selbst jedenfalls habe mir vorgenommen, meinen Organspendeausweis nicht wieder für die nächsten Jahre in den Untiefen meines Portemonnaies verschwinden zu lassen, sondern mich aktiv mit der Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen.

Text: Marie-Luise Unteutsch

Foto: Amac Garbe

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