Campuskolumne

„Luise, können wir telefonieren wegen Sachsen?“

Wenn es unter allen mehr oder weniger mit dem Präfix „Hiobs-“ zu versehenden Botschaften betreffs Chemnitz, die sich in den vergangenen Tagen als Banner auf dem Smartphone-Display so in mein Bewusstsein geschoben haben, um den Preis der größten Denkwürdigkeit ginge –diese wäre auf meiner Shortlist. Es ist die Nachricht des Chefredakteurs eines Onlinemagazins für junge Leute mit Sitz in Nordrhein-Westfalen an seine Korrespondentin im Osten.

Wegen Sachsen. Nicht „wegen den rechtsextremen Aufmärschen in Chemnitz“, nicht „wegen Chemnitz“, nicht „wegen den rechten Sachsen“. Nein, „wegen Sachsen“. Denn über Sachsen, das liest und hört man viel, „muss man jetzt wieder reden“. Sachsen, ein Synonym für Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, für junge Männer mit Gewaltbereitschaft und alte mit Anglerhütchen. Die Ereignisse in Chemnitz fügen sich einfach zu gut in die Geschehnisse von Dresden – Stichwort Pegizei – und eigentlich in alles, was sich seit einigen Jahren in Sachsen so abspielt. Pegida, Heidenau, Galgen für Politiker. Alles eins, alles rechts.

Vieles falsch.

Natürlich hat Sachsen ein Problem mit Rechtsextremismus und -populismus. Wäre dies die BILD, der Satz würde sogar ein Ausrufezeichen verdienen. Eine Auswahl: 56 Prozent halten Deutschland für überfremdet. 36 Prozent halten Homosexualität für unnatürlich. 62 Prozent glauben, dass Muslime unsere Werte nicht akzeptieren. 25 Prozent würden die AfD wählen. In Sachsen gab es 2017 1.959 rechtsextreme Straftaten. Dass das weniger als 2016 (2.380) sind: ein schwacher Trost. Und doch kam die Zahl 100 in den letzten Sätzen nicht vor. Nur sie würde rechtfertigen, von „den Sachsen“ zu reden, wenn es um Rechte geht. Denn Sachsen hat auch viele Initiativen und Vereine gegen rechts. Leute, die für Seenotrettung auf die Straße gehen, die sich den Zusammenrottungen von Chemnitz entgegenstellen, die ihr Kreuz bei moderaten, linken, liberalen Parteien machen, die weltoffen und tolerant sind. Sie alle missachtet die implizite Gleichsetzung von Sachsen und rechts. Sie ist auch Wasser auf die Mühlen derer, die noch immer das Gefühl haben: Die Westdeutschen nehmen uns nicht für voll. Die reden nicht mit uns, sondern über uns. Schicken ihre Landeskorrespondenten hierher, runzeln ihre Stirn, haben schon immer gewusst, dass die Polizei und die Politik und die Bürger sowieso ein bisschen rechts sind. Unter #Sachsenbashing findet man auf Twitter zu viel Kurzsichtiges und Extremes. Aber man findet auch vertiefte Gräben.

Der Blick auf das „rechte Sachsen“ verdeckt zudem den Blick auf die Ursachen für rechtsextreme oder -populistische Einstellungen. Der den Hitlergruß zeigende Nazi und der die AfD wählende Rentner haben nicht die gleichen Beweggründe – werden aber in einen Topf geworfen, wenn dieser Tage vom rechten Sachsen die Rede ist. Die Ursachen reichen vom familiären Einfluss und der Vernachlässigung politischer Bildung an sächsischen Schulen bis hin zum sterbenden Dorf (man fahre einmal mit dem Zug nach Chemnitz und schaue aus dem Fenster!) und der irrationalen Angst vor dem Fremden, die auch aus fehlender Erfahrung resultiert. Um KRAFTKLUB mit ihrem Lied zur Stadt zu zitieren: „Ich kann nichts dafür, doch die meisten begreifen nicht/Dass es nicht meine Schuld ist, wenn mein Leben scheiße ist/Sondern eigentlich das System, Politik und Hartz“. Das ist freilich überspitzt und soll nicht den Einzelnen von seiner Schuld freisprechen. Wohl aber heißt es, einen Schritt zurückzutreten, zu differenzieren, zu erklären. Denn Sachsen ist keine Ursache. In Sachsen sieht man Symptome.

Text: Luise Martha Anter

Foto: Amac Garbe

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