Campuskolumne

Im Kleinstadt-Netto ist die Welt noch in Ordnung. Pünktlich um viertel zehn treffen sich die Rentner des Viertels, um sich zwischen Salatköpfen und Spülmittel über den letzten Zahnarztbesuch auszutauschen. Und wie heimelig es dann erst an der Kasse zugeht! Weil – natürlich – nur eine Kassiererin zugegen ist, stauen sich die Rentner bis ins Chipsregal. Sie regen sich dann auf und fuchteln mit den Armen. Immer langsamer zieht die Kassiererin die Waren über den Scanner, jegliche Schuld auf breitem Sächsisch von sich weisend. Sie hält noch einen Plausch über die Unmöglichkeit von 100-Euro-Scheinen und die Ungenießbarkeit der letzten deutschen Erdbeeren. Zum Schluss, man glaubt es kaum, sagt sie „Tschüss“ und wünscht einen schönen Tag. Eine echte Kassiererin, klassische Supermarkt-Probleme, Einkaufstratsch. Heile Welt zum Dienstagmorgen.

Im Edeka am Albertplatz ist die Welt hingegen gar nicht in Ordnung. Gut, der Laden ist schön und die Auswahl groß, das Licht warm und Heinz Rudolf Kunze dudelt hier auch nicht. Aber es gibt Selbstbedienungskassen. Hier sagt man nicht „Hallo!“, hier drückt man auf den Bildschirm. Das Scannen macht spätestens beim zweiten Artikel keinen Spaß mehr. Schlimmer noch die Artikelsuche: Wie hieß noch mein Brötchen? War es das Krustikorn-Rustikal-Dreieck? Oder das Fußball-WM-Sonderbrötchen mit Gerstenkrümeln? Und warum heißt das Brot V6? Habe ich einen Salatkopf oder Kopfsalat? Hat man sich endlich durch die Wirren der Technik gekämpft, sich für eine von sechs Bezahlmethoden entschieden und sogar den Restgeldschieber gefunden – dann, ja, dann schafft es die kühle Computerstimme nicht einmal, ordentlich „Danke!“ zu sagen: „Bitte entnehmen sie ihren Bon und die Waren. Vielen Da…“ Sobald man ihr Folge leistet, bricht sie ab. Einkaufsstress am Dienstagabend.

Die Possen an der DIY-Kasse sind je nach Tageszeit und Gemütszustand lustig oder nervig. Immer aber sind sie Symbol eines Fortschritts um des Fortschritts willen. Wenn Selbstbedienerkassen möglich sind, dann machen wir das! Getreu dem Motto: Es reden doch alle die ganze Zeit von dieser Digitalisierung, da probieren wir das einfach mal.

Auf den ersten Blick scheinen die Kassen aber ein Paradebeispiel misslungener Digitalisierung zu sein: Mehr Geräte, also mehr Anonymität und mehr Chaos. Die Kunden sparen keine Zeit und der Laden wohl auch kein Geld – er kann nämlich kaum Personal einsparen. Denn Kassenautomaten sind äußerst sensible Zeitgenossen. Egal, ob die Gurke nicht auf der Ablage liegt oder das Laugenbrötchen aus Versehen doch, ob der Artikel reduziert ist oder der Barcode nicht bekannt: Der Automat streikt. „Bitte warten sie auf Ihren Betreuer!“ Die Kunden stehen mit gebundenen Händen vor dem Automaten, banger Blick, genervtes Wippen. Erst, wenn die BetreuerIn sich erbarmt, ihren Wunder-Chip an den Automaten hält und hektisch etwas eintippt, kann es weitergehen. Aus der KassiererIn, die – so das Klischeebild – stoisch Waren über den Scanner zieht, wird die BetreuerIn, die den Kunden aus seiner Automatennot rettet.

An der Supermarktkasse stellt man sich an und wartet, bis man dran ist. Der soziale Druck der Kunden in der Schlange sorgt dafür, dass sich der Kassenmensch beeilt und freundlich ist. Wer hingegen vor einem streikenden Automaten steht, ist voll und ganz vom Wohlwollen der BetreuerIn abhängig. Wenn sie nicht kommt, kommt sie nicht. Sie könnte einen ja auch verhungern, verdursten und ausrasten lassen. Welch gottgleiche Fähigkeiten! Nicht nur, dass die Wegrationalisierung des Personals vermieden wird – es wird noch dazu massiv aufgewertet. Gelungene Digitalisierung.

Text: Luise Martha Anter

Foto: Amac Garbe

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