In atemberaubenden Bildern erzählt der sechsfach für den Oscar nominierte Film „Lion“ von der unglaublichen Lebensgeschichte eines indischen Adoptivkindes, das sich mithilfe von Google Earth auf die Suche nach seiner wahren Herkunft begibt.
Seinen Alltag verbringt Saroo gemeinsam mit seinem Bruder bei illegalen Arbeiten, um die Familie notdürftig zu versorgen. Als er seinem Bruder eines Nachts bei einer Arbeit helfen möchte, schläft er in einem Zug ein, der ihn über hunderte von Kilometern von seiner Familie entfernt. Saroo lebt fortan zunächst auf der Straße, bevor er in ein Kinderheim kommt und schließlich von einem australischen Ehepaar adoptiert wird. Die Gedanken an seine Familie in Indien begleiten ihn dennoch unablässig.
„Lion“ basiert auf dem autobiographischen Bestseller „Mein langer Weg nach Hause“ von Saroo Brierley und schmückt sich mit dem Attribut „nach einer wahren Begebenheit“. Hinter dieser Wortgruppe versteckt sich die leider häufig zum Hollywood-Stereotyp gewordene Intention, eine vermeintlich reale Geschichte für ein breites Publikum rührselig zu überhöhen. Regisseur Garth Davis, der mit „Lion“ sein Kinodebüt vorlegt, entfernt sich von diesem kassentauglichen Erzählmuster. „Lion“ ist im besten Sinne großes Kino, das sich vor Sentimentalitäten nicht scheut, zugleich seinen Realismusanspruch aber auch konsequent beibehält.
Überhaupt ist „Lion“ ein hochpolitischer und aktueller Film geworden, dessen Ambivalenz aus Melodramatik und Gesellschaftskritik selten so gut in einem Hollywood-Film harmoniert wie in diesem Falle. Dafür schafft der australische Kameramann Greig Fraser („Zero Dark Thirty“) beeindruckende Aufnahmen, die lange im Gedächtnis nachwirken: So findet Saroo einen silbernen Löffel in einem Müllberg, der sich direkt gegenüber von einem noblen Restaurant befindet, in dem ein Anzugträger eine Suppe aus einer weißen Keramikschüssel löffelt. Die Polaritäten des Lebens durchziehen den ganzen Film: Insbesondere Themen einer globalisierten Welt wie Armut und Reichtum oder Integration und Ausgrenzung verdichten sich im persönlichen Schicksal von Saroo, dessen größter Wunsch nur die Rückkehr zur Geborgenheit der Familie bleibt.
Der Film wäre ohne seine Darsteller wahrscheinlich nur halb so gut. Dev Patel aus „Slumdog Millionär“ überzeugt mit einer eindrucksvoll-authentischen Performance als erwachsener Saroo und Nicole Kidman liefert in ihrer Intensität als Adoptivmutter überraschend das wohl beste Spiel ihrer Karriere. Dabei ist der eigentliche Star Sunny Pawar, der den kleinen Saroo verkörpert. Erschöpft und verzweifelt fragt Saroo an einer Stelle: „Haben Sie meine Mutter auch wirklich überall gesucht?“ Sein Leid, sein Hoffen, seine Trauer und seine Freude rühren immer wieder zu Tränen. Ein so unaufgeregtes und doch eindrucksvolles Schauspieldebüt lässt sich selten finden.
„Lion“ ist der bewegendste Kinofilm seit Langem.
Text: Paul Bischoff
Foto: Amac Garbe