Zurzeit sind circa 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Auch der Zweite Weltkrieg löste große Fluchtwellen aus. Die Generation unserer Großeltern hat selbst erlebt, was Flüchtende heute durchmachen. Sabrina Winter hat mit Hildegard König gesprochen, die als Kind vor russischen Truppen geflohen ist.
Als ihre Mutter sie auf einen Pferdewagen setzt, ist Hildegard König vier Jahre alt. Unter ihr stapeln sich Bettdecken und Kleider, neben ihr sitzen ihre zwei Schwestern. Ihre Mutter läuft hinter dem Pferdewagen her. Es ist sehr früh am Morgen, dunkel und verschneit.
Diese Szene ist hängen geblieben. Wann sie sich ereignete, weiß Hildegard König heute nicht mehr genau. „Ich war damals so klein. Als Kind hat man eine ganz andere Vorstellung von Zeit“, sagt sie und fährt sich dabei durch ihre braunen Locken. Es liegt nahe, dass es im Januar 1944 war. Denn ihre kleine Schwester Loni kam im Juni 1943 zur Welt. „Die Loni war damals ungefähr ein halbes Jahr alt“, da ist sich Hildegard König sicher. Außerdem erinnert sie sich an eine andere Sache: „Meine Mutter hat Kuchen gebacken, weil sie Geburtstag hatte.“ Das war am 31. Januar. Doch der Kuchen bleibt auf dem Küchentisch stehen. Über Nacht flieht das gesamte Dorf vor russischen Truppen.
Rund 3,2 Millionen Menschen fliehen während und nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien. Sie machen den größten Anteil aus unter den insgesamt 12,5 Millionen deutschen Flüchtenden, die 1950 in DDR und BRD gezählt wurden. Zu ihnen gehören auch Hildegard König und ihre Familie. Das ist nun etwa 73 Jahre her. Hildegard König heißt eigentlich anders, aber sie möchte ihren Namen nicht im Internet veröffentlicht sehen. Die Rentnerin hat wenige Erinnerungen behalten vom Zweiten Weltkrieg und ihrer Flucht aus Niederschlesien. Doch die Erinnerungsstückchen, die ihr im Kopf geblieben sind, sind klar. Die 77-Jährige hat früh in ihrem Leben Hunger, Leid und Armut erfahren. Oft mahnt sie ihre Enkel mit erhobenem Zeigefinger: „Ihr wisst gar nicht, wie gut es euch geht.“
Heute hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Haus mit großem Garten, Garage und einer Solaranlage auf dem Dach. Im Keller stapeln sich Konservendosen, von denen die beiden wochenlang essen könnten. Das Haus, in dem Hildegard König geboren wurde, sieht anders aus. Es steht in einem Dorf in Polen, 35 Kilometer südlich von Wrocław. Die Rentnerin kennt es als Grögersdorf. Heute heißt der Ort Grzegorzów – ein verschlafenes Nest mit 170 Einwohnern, einer langen Straße, einem Sportplatz und einem Feuerlöschteich. „Oh, den Teich gab es damals schon“, ruft Hildegard König. Als sie ein großes graues Haus erblickt, weiß sie: „Da müssen wir auf den Hof fahren.“
Der Hof in Grögersdorf entpuppt sich als ein großes Gut. Die Ställe sind verfallen und an einer Seite parken Traktoren und Mähdrescher. Ganz am Ende des Hofes steht ein Mehrfamilienhaus. „Das ist es“, sagt Hildegard König. „Da haben wir gewohnt.“ Sie deutet mit der Hand auf einige Fenster im Erdgeschoss. Die Fassade ist grau und die Fensterrahmen haben Risse. Der Blick der Rentnerin wandert zurück zum Hof. Sie kramt eine Digitalkamera aus ihrer Westentasche und drückt auf den Auslöser. „Hier haben wir als Kinder gespielt“, seufzt sie. „Eigentlich war es damals schön.“
Die Orte, die sie auf der Flucht sieht, sind weniger schön. Die Bewohner von Grögersdorf laufen über 70 Kilometer Richtung Süden, bis sie zu dem Dorf Plomnitz kommen. Heute heißt es Pławnica und liegt nahe der tschechischen Grenze. In Plomnitz verteilt der Bürgermeister die Flüchtenden auf die Haushalte im Dorf. Eine Frau soll die Familie aufnehmen. Doch sie weigert sich. „Sie wollte keine Kinder in ihrem Haus haben. Aber wir waren ja drei Kinder“, erinnert sich Hildegard König. In ihrer Stimme liegt Wut. „Wir haben den ganzen Tag vor ihrer Tür gesessen. Bis am Abend der Bürgermeister kam und die Frau unter Druck gesetzt hat.“
Die Rentnerin hat selbst erlebt, wie sie als Flüchtende abgewiesen wurde. Umso paradoxer wirkt es, was sie über diejenigen denkt, die heute ihre Heimat verlassen müssen. Zurzeit sind ungefähr 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Von ihnen sind 2016 rund 280.000 nach Deutschland gekommen. „Das finde ich nicht gut“, sagt Hildegard König. „Die bekommen hier alles, Wohnungen, Geld und so weiter. Wir hatten nicht einmal Feldbetten.“
Auf ihrer Flucht kommt sie mit ihrer Familie nach Oderwitz, eine Gemeinde im südöstlichsten Zipfel Sachsens. Wie sie dorthin gelangt ist, weiß die 77-Jährige nicht mehr. Aber an den Ort erinnert sie sich: „Wir haben in dem großen Saal einer Schokoladenfabrik geschlafen. Der Boden war mit Stroh ausgelegt. Das waren unsere Betten.“ Dort hört sie die befreiende Nachricht: Der Krieg ist vorbei. Die Geschichten über ihre Flucht erzählt sie, ohne emotional zu werden. Hildegard König ist damals oft krank. Ihre große Schwester wird einmal ohnmächtig vor Hunger. Jahrelang teilen sich die drei Schwestern ein Bett. „Das war damals halt so“, kommentiert sie die Situation.
Die heutige politische Lage berührt sie dagegen: „Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber wenn sie herkommen, sollen sie sich uns anpassen und nicht umgekehrt.“ Ihre Stimme klingt laut und ärgerlich. Manchmal weiß sie nicht, wie sie ihre Gedanken formulieren soll. Dann setzt sie zum Reden an und sagt schließlich doch nichts. „Die können ja nicht alle zu uns kommen. Eines Tages sind wir auch überfüllt“, bringt sie heraus. Im Gespräch hört man oft Stolz in ihrer Stimme, auf das was sie und ihr Mann sich in der DDR aufgebaut haben. Da wäre zum Beispiel ihr Haus, das sie selbst gebaut haben, obwohl Ziegel und Zement Mangelware waren. Spricht sie über Flüchtende, taucht eine Frage in Hildegard Königs Argumentation oft auf: „Warum soll es denen besser gehen als uns damals?“ Sie erklärt: „Es soll nicht so sein, dass sie auch auf Stroh liegen. Aber sie sollen doch erst mal zufrieden sein mit dem, was sie geboten kriegen.“
Dann ist sie still. Ein paar Minuten denkt sie nach und ergänzt: „In Syrien wird alles so sinnlos zerstört – für nichts und wieder nichts. Eigentlich müsste die Welt doch aus den zwei Weltkriegen gelernt haben.“
Text: Sabrina Winter
Foto: privat