Erasmus kurz vorm Polarkreis

Kalt, viel Natur und exorbitante Preise: In Norwegen vermutet man ein Austauschsemester abseits der Erasmusklischees. Gefeiert wird im hohen Norden aber doch.

Die Sonne spiegelt sich im tiefen Blau des Fjords, drumherum ragen die schroffen Felsen mehrere hundert Meter in die Höhe, gekrönt von einigen Resten Schnee des letzten Winters – Sehnsucht nach solch atemberaubender Szenerie? Erasmus in Norwegen, das bedeutet: Der Unialltag bekommt neben den berühmt-berüchtigten Erasmuspartys auch noch harte Konkurrenz durch Wanderungen, Kletter- oder Skitouren. „Norwegen war zwar erst nur mein Zweitwunsch, aber letztendlich doch die beste Wahl“, erzählt Gwendoline Ménard aus Frankreich, die dort Fremdsprachen und Internationale Arbeit studiert. „Nachdem ich die Fotos von einem Freund gesehen habe, war meine Entscheidung getroffen.“ Ähnliche Beweggründe für den hohen Norden hört man von allen Austauschstudenten, die Landschaft hat eine magische Anziehungskraft. „Außerdem kann man hier noch sehr gut auf Englisch studieren“, ergänzt Philipp Bauer, Elektrotechnikstudent aus Dresden. Das lockt viele, die ihre Sprachkenntnisse aufbessern wollen, aber keinen Studienplatz in Großbritannien bekommen haben.

Das Englisch der Skandinavier ist sehr gut. Nicht nur die Schulbildung trägt dazu bei, auch kleine Details, beispielweise dass nur wenige Kinofilme synchronisiert werden. Meist müssen Norweger die Originalfassung schauen. Der Aufwand lohnt für so wenige Einwohner einfach nicht. In Norwegen leben 5,15 Millionen Menschen, davon bereits mehr als ein Drittel in und rund um Oslo. Im Durchschnitt teilen sich einen Quadratkilometer Land nur 14 Menschen. Außerhalb des europäischen Kontinents soll es Leute geben die meinen, Norwegen sei eine Stadt in Schweden. Die Entdeckung von Ölfeldern in der Nordsee, Anfang der 70er-Jahre, machte aus dem Land, das bis dato eines der ärmsten Europas war, innerhalb weniger Jahre eines der reichsten. Mit den vielen Steuern und Abgaben baute die Regierung ein Sozialsystem auf, das von vielen in Europa als Vorbild gesehen wird. Auch Studenten profitieren von diesem: Studieren ist an allen staatlichen Universitäten ohne Studiengebühren möglich, außerdem gibt es einen vom Einkommen der Eltern unabhängigen Kredit für den Lebensunterhalt. Bei Bestehen der Prüfungen wird ein Teil in ein Stipendium umgewandelt, für alle, die nicht mehr zu Hause wohnen.

Die Universitäten sind sehr gut ausgestattet. An der Universitetet i Agder, die sich auf Standorte in Kristiansand und Grimstad in Südnorwegen aufteilt und mit Erlangen des Universitätsstatus 2007 eine der jüngsten im Land ist, sind viele Austauschstudenten vom modernen Campus und der technischen Ausstattung beeindruckt. „Die Uni hier setzt viele innovative Konzepte um. Mir gefällt das praktische Design und die vielen gemütlichen Arbeitsecken, der großartige und schnelle Support für Studenten und das durchdachte Studienmanagement im Web. Damit verglichen wirkt meine Heimatuniversität langweilig“, erzählt Uwe Eßmann, der in  Münster Technisches Management studiert. Viele Kurse haben nicht mehr als 20 bis 30 Studenten, das schafft eine angenehme Gruppenlernatmosphäre. Die wird auch dadurch unterstützt, dass in fast jedem Fach ein Projekt in Gruppenarbeit durchgeführt wird. Prüfungstermine stehen zum langfristigen Planen einen Monat nach Semesterbeginn fest. Geschrieben wird entweder gleich eine digitale Prüfung auf dem eigenen Laptop oder Leihgerät mit Anti-Schummel-Software oder noch in der „klassischen“ Variante, auf Durchschlagpapier, und es darf eine Kopie inklusiv der Aufgabenstellung mit nach Hause genommen werden.

Der größte Unterschied dürfte das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten sein. Die meisten sind in der der Vorlesung angeschlossenen Übung anwesend und beantworten die Fragen der Studenten. Außerdem wird beim Vornamen angesprochen und auch in E-Mails unkompliziert und formlos kommuniziert. Daran und an die umgehende Antwort des Profs, auch gern mal um 23.45 Uhr, muss sich so manch deutscher Austauschstudent erst mal gewöhnen. Etwas Geduld bedarf es auch mit den Nordmenschen. „Wir Norweger wirken etwas zurückgezogen und reden nicht mit Menschen, die wir nicht kennen“, erzählt Renate Nordwik, die Wirtschaft studiert und sich als Erasmus-Buddy um die Internationals kümmert. „Der ’normale‘ Norweger scheint nicht zu bemerken, dass auf dem Campus Austauschstudenten existieren, bis sie plötzlich in seinem Kurs auftauchen.“

„Manchmal ist es echt frustrierend, wenn die Kommunikation nicht gleich funktioniert. Es braucht einige Zeit, aber man kann sich an ihre Denkweise gewöhnen“, hat Uwe Eßmann aus seinem Semester mitgenommen. „Und dann werden sie deine besten Freunde.“ Bei gemeinsamen Aktivitäten, besonders den Lieblingshobbys der Norweger – Wandern, Skifahren und Fischen -, ist die anfängliche Skepsis schnell vergessen. Wer schlussendlich die Einladung auf eine der Hütten bekommt, die Familien-Heiligtümer der Norweger, bunt verteilt mitten im Niemandsland, der hat seine Erasmusmission mit Auszeichnung bestanden.

Die ganz andere Seite, die des redseligen und fröhlich-freundlichen Norwegers, erlebt man auch, wenn man feiern geht. Vorgetrunken wird gemeinsam mit Freunden getreu dem Motto „ganz oder gar nicht“ beim „Vorspiel“ (sprich: „Vorsch“). Ja, da wurde aus dem Deutschen in den norwegischen Sprachgebrauch übernommen, ob im Bewusstsein über die Wortbedeutung ist unbekannt. Gegen Mitternacht geht es in den Club, um diesen spätestens um 2 Uhr auch schon wieder zu verlassen. Dann ist gesetzlich vorgeschriebener Schankschluss. Man trifft sich daher noch zum „Nachspiel“ (sprich: „Nachsch“) – quatschen, trinken oder Nachtsnack kochen.

Um die Studenten trotz exorbitant hoher Alkoholpreise in Feierlaune zu halten, lassen sich Verkäufer einiges einfallen. Während sie im Norden mit kostenlosen Bussen von schwedischen Supermärkten zum Einkauf über die Grenze gefahren werden, schippert man von Kristiansand in Südnorwegen auch gern mal sechs Stunden mit der Fähre nach Dänemark rüber und zurück, um unterwegs zollfrei einzukaufen. Für alle, die noch immer nicht genug bekommen haben und während ihrem Skandinavien-Erasmus-Aufenthalt unter Party-Entzugserscheinungen leiden, organisieren die Erasmusnetzwerke (ESN) Schweden, Dänemark, Norwegen und Litauen einmal im Semester das „SeaBattle“: Man nehme ein Schiff und veranstalte für 2.000 Feierwütige eine riesige Party-Ostseeüberfahrt von Stockholm nach Tallin. So kommt dann auch dieser Bestandteil des Studiums bei einem Erasmusaustausch in Norwegen nicht zu kurz. Skål! Prost!

Text: Richard Rudat

Fotocollage: Richard Rudat/Amac Garbe

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