Filmtipp des Monats: The Zone of Interest

Diese Woche startet mitThe Zone of Interest“ ein Film in den deutschen Kinos, der aufgrund seiner Ungewöhnlichkeit schwer zu bewerben ist und gerade aus diesem Grund von so vielen Menschen wie möglich genau dort erlebt werden sollte. Ebenso schwer wie dessen angemessene Bewerbung fällt es, Worte über diesen Film zu formulieren, die ihm auch gerecht werden. Die Thematik im Zentrum des neuen Films des schottischen Regisseurs Jonathan Glazer scheint auf den ersten Blick bereits unangenehm vertraut und lässt altbekannte Erzählmuster erahnen, doch nicht so, nicht mit derartiger Filmsprache und nicht aus dieser Perspektive. Hier lohnt sich eine Annäherung von ganz anderer Seite, den Inhalt einmal beiseitelassend.

Ein randständiger Visionär

Wer mit dem bisherigen Filmschaffen von Jonathan Glazer vertraut ist, wird von der ungewöhnlichen Erscheinung seines neuesten Werkes keineswegs überrascht sein – allen anderen hilft vielleicht eine kurze Einordnung.

Glazer hat seit dem Jahr 2000 lediglich vier Langfilme inszeniert, von denen jeder eine vollkommen eigene Seherfahrung darstellte. Miteinander verbunden hat sie eigentlich nur ihre stilistische und inhaltliche Eigensinnigkeit. Am bekanntesten davon dürfte noch „Under the Skin“ von 2014 sein, da darin Scarlett Johansson ein Männer-verschlingendes-Alien verkörpert. Aber auch damit wurde Jonathan Glazer keinem breiten Kinopublikum bekannt. Er bewegte sich stets am abseitigen Rand der Filmlandschaft und verfolgte seine filmischen Visionen ohne Kompromisse.

Nun scheint ihm mit „The Zone of Interest“ erstmalig eine etwas größere Öffentlichkeit Beachtung zu schenken. Der Film ist für die anstehenden Oscars in fünf entscheidenden Kategorien nominiert, unter anderem als bester Film, als bester fremdsprachiger Film und für die beste Regie. In Cannes hat er bereits vier Preise erhalten, zahlreiche weitere bei anderen internationalen Filmfestivals.

Ein weiterer Faktor für die internationale Aufmerksamkeit ist die aktuelle und vollkommen berechtigte Strahlkraft von Sandra Hüller, welche nebenAnatomie eines Falls“ auch mit ihrer Rolle in diesem Film Aufsehen erregt. Wer nun jedoch vermutet, dass Glazer in seinem vierten Werk plötzlich auf die Inszenierung eines Publikumslieblings umgesattelt hat, liegt damit der Wahrheit so fern wie es nur irgendwie geht.

Eine Familie zwischen Wohlstand und Ambitionen

Im Zentrum des Films steht die Familie Höß. Der Familienvater Rudolf ist mit seiner Frau und ihren gemeinsamen Kindern direkt an seine Arbeitsstätte gezogen, wo sie in einem stattlichen Anwesen mitsamt großem Garten und in schöner Landschaft leben.

Mit der hohen Anstellung von Rudolf erhalten nicht nur materielle Besitztümer Einzug in den Haushalt, sondern auch gesellschaftliches Ansehen und weitere berufliche Ambitionen. Wir schreiben das Jahr 1943, die Familie residiert in Auschwitz, wo Rudolf Höß als Kommandant des an ihr Anwesen angrenzenden Konzentrationslagers arbeitet. Allein diese inhaltliche Beschreibung muss reichen, denn sie umfasst bereits den Kern dieses wahnsinnigen, vor allem wahnsinnig wichtigen Films.

Eine völlig neue Perspektive

In aller Radikalität wirft Jonathan Glazer seine Zuschauer:innen in die Perspektive derjenigen, welche die Vernichtung von unzähligen Menschen akzeptiert, ermöglicht und durchgeführt haben. Glazer lässt jedoch kein bisschen Raum für das übliche effekthascherische Betroffenheitsdrama, welches eine Distanz erzeugt zu dem, was „die damals“ verbrochen haben.

Die Figuren auf der Leinwand wirken erschreckend nahbar mit ihren Wünschen, Ängsten und Sorgen um das eigene Wohlbefinden und ihrer gleichzeitigen Fähigkeit, unvorstellbare Grausamkeiten direkt vor ihren Augen scheinbar auszublenden. Ja, die Kleidung wirkt nicht mehr modisch, auch an der Hauseinrichtung und technologischen Geräten lässt sich die Zeit von vor nahezu 80 Jahren erkennen. Die dargestellten Menschen könnten jedoch auch im Hier und Jetzt neben einem im Kino sitzen, sich ebenso eine unterhaltsame Auszeit vom Arbeitsalltag gönnen.

Ein Film über die Gegenwart

Dieses Meisterstück gelingt „The Zone of Interest“ durch seine unablässig direkte Inszenierung. Kein Detail wirkt ausgeschmückt und der filmische Raum ist derart glaubwürdig gestaltet, dass sich die tollen Darsteller:innen (neben Sandra Hüller als Hedwig auch Christian Friedel als Rudolf Höß) frei darin bewegen können.

Gepaart mit einem nie zuvor dagewesenen Sounddesign, welches einem die unsäglichen Vorgänge hinter den Mauern von Auschwitz ins Unterbewusstsein einbrennt, und künstlerisch aufgebrochen durch experimentelle filmische Einschübe und die außergewöhnliche Musik von Mica Levi, erzeugt dieser Film eine Sogwirkung, der sich wohl niemand entziehen kann und die einen am anderen Ende auch nicht wieder entlässt. Denn hier geht es nicht einfach um Vergangenheit, sondern um Gegenwart und hoffentlich nicht um Zukunft.

Text: Carl Lehmann

Foto: Familie Höß mit Gästen in ihrem Garten. © Leonine Studios

Ein Gedanke zu “Filmtipp des Monats: The Zone of Interest

  1. Hallo Herr Lehmann,
    die Beschreibung des Films „The Zone of Interest“ kann einen Grund dafür geben, dass man einen Kinobesuch plant. Danke für die einprägsamen Teile Ihres erklärenden Textes.

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