Theaterstück des Monats: Lulu

„Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“, vereint zur Tragödie „Lulu“, wurden 1894 vollendet, also vor 130 Jahren. Sie gelten, neben „Frühlingserwachen“, als zentrales Werk des deutschen Dramatikers Frank Wedekind. Bereits im Jahre 2010 hatte sich das Staatsschauspiel Dresden des Stoffes angenommen, mit drei Frauen in der Hauptrolle und dem jungen Christian Friedel als einer der Liebhaber. Jetzt hat Daniela Löffner den Stoff wieder inszeniert. Mit mehr Mann und weniger Stoff.

Am Anfang das Ende

Als das Licht für den Schlussapplaus wieder angeht, liegt Hauptdarsteller Simon Werdelis, der Lulu verkörpert, auf dem Flügel und streckt die Glieder. Lässt die Fußgelenke kreisen und kommt langsam wieder an. Dreieinhalb Stunden hat er das Publikum unterhalten, zum Nachdenken angeregt und Abscheu und Faszination gleichermaßen hervorgerufen. Den Großteil der Inszenierung nackt, nur „bekleidet“ mit schwarzer Farbe, manchmal mit einem Kleid, dient seine „Lulu“ als Projektionsfläche für Lust an der Liebe, der Sehnsucht nach Zuneigung und dem Gefühl, benutzt zu werden.

Eine Frau, viele Männer

„Lulu“ erzählt den Aufstieg und den Fall einer jungen Frau, die sich von einem Medizinalrat, einem Maler und einem Verleger begehren lässt und sich schließlich prostituieren muss, um Vater und Liebhaber zu ernähren. Die Frage, wer wen benutzt, sticht im ersten Teil deutlich hervor.

Bezeichnend die zweite Szene, in der sich Lulu für den Maler in Pose geworfen hat und mit Dauergrinsen Bewunderung einfordert. Selbst wenn um sie herum wichtige Diskussionen um die Modernisierung des deutschen Dramas geführt werden. Prägnant auch ihre Feststellung, sie wisse, wie man sich auszieht, aber nicht, wie man sich anzieht. Ist das Genuss an der Passivität, Masochismus? Oder ein Erdulden gesellschaftlicher Konventionen, in der die Frau als Heilige ohne eigene Meinung verehrt wird? Immerhin wird Lulu von ihren Bewunderern nie mit ihrem richtigen Namen angesprochen, sondern bekommt von ihnen eigene Namen – der Medizinalrat nennt sie Nelly, der Maler nach der Vertriebenen aus dem Paradies, Eva, und der Verleger Mignon, also „niedlich“ oder „Liebling“.

Der Anfang vom Ende

Später heiratet Lulu nach langem Hin und Her den Verleger Dr. Schön, doch betrügt sie ihn mit immer neuen Männern. Ist sie eine Opportunistin, die zum nächsten Mann weitereilt, sobald einer sie langweilt? Ein krankes Geschöpf, an dem Sigmund Freud Jahrzehnte später seine Freude gehabt hätte? Oder ist sie ihrer Zeit voraus, will polyamor leben; will viele und denkt, es brauche nur einen?

Was Lulu ist, bleibt unklar. Dazu passt auch, dass die Figur überwiegend nackt gestaltet ist. Denn der Sinn ihres Lebens ist nichts Festes, kein Zustand, sondern fließend. Nichts steht zwischen ihr und ihrer Lust. Ganz im Gegenteil: In dem Moment, in dem sie für Dr. Schön ein blaues Kleid anzieht, verliert sie die Kontrolle. Und einer kleinen Katastrophe folgt eine größere.

Bruch nach zwei Stunden

Nach der Pause beginnt ihr Abstieg: Im goldenen Glitzerkleid auf einer Party ist sie anfangs der Star, wird jedoch schnell von ihrer Vergangenheit eingeholt. Schließlich presst man sie in ein rotes Outfit, zwingt sie, ihren Körper zu verkaufen. Die Kleidung wird zum Gefängnis, aus dem sie nur der Tod erlösen kann.

„Lulu“ ist schwer auszuhalten. Weniger wegen der Darstellung von Nacktheit und Sex, denn das ist man im Theater mittlerweile gewöhnt. Sondern weil sie sich voller Freude dem Genuss hingibt, sich benutzen lässt und kaum andere Charaktereigenschaften hat. Lulu hat kein Ziel, keinen Willen aufzubegehren. Sie will nur geliebt werden. Nach der Pause wird das deutlicher. Denn all die Bewunderer wenden sich gegen sie. Und obwohl sie versucht, mittels einer Intrige den Fängen ihrer Taten zu entkommen, verfängt sie sich im Netz ihrer verblassenden Ausstrahlung. „Lulu“ ist ein Stück, das wenige Emotionen so deutlich darstellt, dass es wehtut.

Die Gretchenfrage

Daniela Löffner hat die weibliche Lulu mit dem männlichen Simon Werdelis besetzt. Dieser spielt die Figur weder übertrieben weiblich noch klischeehaft männlich, sondern wird zu einem Zwischenwesen, dessen Geschlecht man irgendwann vergisst. Das hat den Vorteil, dass man sich auf die Handlung und das Gefühl konzentrieren kann. Frauen werden anders bewertet und wahrscheinlich hätte man von einer weiblichen Darstellerin mehr Facetten eingefordert, mehr Leiden, mehr Aufbegehren, mehr Bezug zur Gegenwart. Gleichzeitig schafft aber genau das Geschlechtsneutrale genügend Distanz, damit all der Schrecken für die Zuschauenden leichter verdaulich ist. Besonders die Personen, die eigene Erfahrungen gemacht haben.

Allerdings fehlt dem Stück damit auch der Blick auf Geschlechterdebatten. Denn sowohl Männer als auch Frauen werden manchmal diskriminiert, es werden Grenzen übertreten, weil das „schwache“ oder „starke“ Geschlecht das aushalten müsse. Frauen werden für ihre Lust verurteilt, Männer auf ihre Rolle als Bewunderer reduziert. Und paradoxerweise finden sich auf der Bühne nur Männer, aber das fügt dem Stoff nur wenig hinzu. „Lulu“ wurde im Laufe der Jahre in unterschiedlichen Formen interpretiert, aber ob das Stilmittel des Geschlechtertauschs dem Stück etwas Nachhaltiges hinzufügt, darüber kann man streiten.

Genuss für Ohren und Augen

Immerhin wird die Dramatik durch Songs von Matthias Erhard, vorgetragen von David Kosel am Flügel, unterstrichen. Diese sind eingängig und fügen dem Stück eine weitere Ebene hinzu. Besonders eingängig ist „Muskboy“, mit dem das Staatsschauspiel den Teaser untermalt hat und in dem das Begehren, der Blick von außen, thematisiert wird.

Das Bühnenbild wird dominiert von riesigen Spiegeln, bei dem das Publikum selbst zum Voyeur und gleichzeitig zum Objekt wird. Auch hier wieder der Fokus aufs Wesentliche, nur selten schicke Dekoration, die ablenkt. Gleichzeitig aber auch die Frage, was das Publikum begehrt, wohin der Blick geht. Wer gebannt auf die Darstellenden schaut und wer seine E-Mails auf dem Handy checkt. Welchen Anteil das Publikum, die Gesellschaft an Lulus Leiden und dessen Ende hat. Eine simple Idee, die gut funktioniert. Vor allem, weil Spiegel und Figuren immer wieder durch Farbe verhüllt werden. Oder: Moralisch beschmutzt werden. Interessanterweise bietet dieser Schmutz im Stück mehr Schutz als die Kleidung. Außerdem sind die Spiegel eine tolle Kulisse für Spieler, die sich mit ausgebreiteten Armen daran räkeln, wie ein:e Heilige:r.

Was ein Mann kann

Spielerisch sticht Simon Werdelis, den man u. a. im „Sommernachtstraum“ und „Ich fühl’s nicht“ sehen konnte, hervor. Er schafft es, das Niedliche, Schöne Lulus mit Freude und einem Funken Tragik darzustellen. Leider ist die Figur zu sehr in ihrem Selbstbild gefangen, um den negativen Emotionen die nötigen Facetten abzuringen. Dennoch ist es eine große Kunst, mehr als drei Stunden fast durchgängig auf der Bühne zu sein und mit Leichtigkeit das ganze Stück zu tragen. Die Chemie zwischen Simon Werdelis und Raiko Küster, der Dr. Schön verkörpert, stimmt. Das Begehren ihrer Figuren wird spürbar, das Ringen umeinander, der Kampf um die Liebe. Es macht Spaß, ihnen zuzugucken, wie sie aneinander scheitern.

Plakativ, aber nicht prägnant

„Lulu“ ist ein Stück, das wehtut. Es hinterfragt menschliche Lust und den Blick, den die Gesellschaft darauf hat. Mit seiner Nacktheit, den vielen Sexszenen und dem ständig männlichen Blick regt es zum Nachdenken an, weil es so übertrieben ist. Es wirkt durch seine simplen Stilmittel und durch die hervorragende Arbeit der Darstellenden. Allerdings fehlt es dem Stück an Tiefe und dem Bezug zu aktuellen Debatten um Verlangen, Grenzen und Gender. Männliches Begehren wird sehr einseitig gezeigt und die weibliche Perspektive verschwimmt durch den Geschlechtertausch. Es sind drei Stunden, die sich kurz anfühlen, weil man so mitgerissen wird.

Text: Vivian Herzog

Zum Foto: Simon Werdelis ist Lulu.

Foto: Sebastian Hoppe

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