Was bleibt vom Kinojahr 2023 in Erinnerung? Wir sind in unseren Kinokarten abgetaucht und haben viele schöne Filmperlen gefunden, von denen wir zehn noch einmal Revue passieren lassen. Tipp: Der eine oder andere Film läuft noch im Kino.
Anatomie eines Falls
Regie: Justine Triet; Besuchszahlen: 252.616 – Platz 70 der in Deutschland geschauten Filme 2023 laut insidekino.de
Die erfolgreiche Schriftstellerin Sandra Voyter (Sandra Hüller) wird verdächtigt, ihren Ehemann und Vater des gemeinsamen Sohnes (Samuel Theis) ermordet zu haben. „Anatomie eines Falls“ ist ein hervorragend inszeniertes Gerichtsdrama, welches seinen Fokus nicht vorrangig auf den nichtsdestotrotz spannenden Klärungsversuch des gezeigten Falls legt. Stattdessen geht es vielmehr um die schmerzhafte juristische Offenlegung zwischenmenschlicher Beziehungen, die so vielschichtig wie glaubwürdig sind. Das mündet in einem einfühlsamen Schauspielkino, bei dem eine groß aufspielende Sandra Hüller auf ein ebenbürtiges Schauspielensemble trifft, allen voran Milo Machado-Graner in der Rolle des Sohnes. Absolut verdienter Gewinner der letztjährigen Goldenen Palme von Cannes und noch im Kino zu sehen.
Past Lives – In einem vergangenen Leben
Regie: Celine Song; Besuchszahlen: 176.710 – Platz 86
In drei Altersstufen werden Ausschnitte aus dem Leben von Nora (Greta Lee) gezeigt, welche als Na-young in Südkorea geboren und mit zwölf Jahren von ihren Eltern nach Kanada übergesiedelt wird. Als Dramaturgie-Studentin trifft sie im Internet zufällig ihren damaligen Freund Hae-sung (Teo Yoo), was Erinnerungen an ihre alte Heimat und verschüttete Gefühle hervorruft. Das Ganze wird zu einer ungewöhnlichen Dreierkonstellation, sobald Nora zudem Arthur (John Magaro) kennenlernt und heiratet. Was in typischen Hollywood-Produktionen zu lauter dramatisierten Szenen führen würde, wird von Celine Song in „Past Lives“ meisterlich zu einer feinfühligen Lehrstunde in Sachen ehrlicher Beziehungsarbeit inszeniert – mit aufrichtigen Emotionen, intelligentem Humor und der zentralen Frage: Was wäre gewesen, wenn …?
Our Body
Regie: Claire Simon; Besuchszahlen: –
In diesem bewegenden Dokumentarfilm wird der Krankenhausalltag von FLINTA*-Personen in nahezu all seinen Facetten beleuchtet. Claire Simon zeigt sich streckenweise selbst bei der Erkundung dieser komplexen Welt, beobachtet sonst aber ganz zurückhaltend hinter der Kamera, wie sich Patient:innen den Fragen und Behandlungen der medizinischen Belegschaft unterziehen. Auf diese Weise ist ein präzises und in ruhigen Bildern gefilmtes Porträt von ganz unterschiedlichen Menschen entstanden, die allesamt auf die ihnen zustehende medizinische Hilfe hoffen. Triggerwarnung: Der Film enthält explizite Aufnahmen operativer Eingriffe.
Smoke Sauna Sisterhood
Regie: Anna Hints; Besuchszahlen: –
Die Sauna fungiert in Estland als ein Safe Space, in dem vor allem Frauen zusammenkommen und über sensible Themen sprechen können. Zugleich erfüllt sie dort traditionell weitere Funktionen des alltäglichen Lebens, beispielsweise als eine Hütte, in der Lebensmittel geräuchert werden. Der ruhig und behutsam gefilmte Dokumentarfilm widmet sich ebendiesem spezifischen soziokulturellen Raum in Estland und fängt dabei viele starke, intime Momente ein – sowohl Momente der Stille als auch solche des Gespräches. Hierbei sei ganz besonders die Kameraarbeit hervorgehoben, welche es schafft, ganz nah zu sein, ohne je aufdringlich zu werden. Läuft noch im Kino!
The Five Devils
Regie: Leá Mysius; Besuchszahlen: –
Das Mädchen Vicky (Sally Dramé) lebt mit ihrer Mutter Joanne (Adèle Exarchopoulos) und ihrem Vater Jimmy (Moustapha Mbengue) in einer Kleinstadt in den französischen Alpen, aber eigentlich befindet sie sich in ihrer ganz eigenen Welt. Aufgrund ihres geradezu übernatürlich entwickelten Geruchssinns nimmt Vicky selbst die feinsten Aspekte in ihrer Umgebung wahr, erkundet die Natur und sammelt ungewöhnliche Funde in Schraubgläsern. Als ihre Tante väterlicherseits (Swala Emati) plötzlich und nach vielen Jahren wieder vor der Tür steht, ist deren Geruch aus irgendeinem Grund für Vicky äußerst beunruhigend. „The Five Devils“ ist ein cineastisches Verwirrspiel, welches beeindruckende Bilder und atmosphärische Szenen zu einem Netz des Verlangens, der Spannung, aber auch des Traumas verwebt. Immer weiter entblättert sich eine verborgene Vergangenheit und legt dabei überraschende Erkenntnisse frei. (Carl Lehmann)
Close
Regie: Lukas Dhont; Besuchszahlen: –
Gleich zu Beginn des Jahres gelang es dem belgischen Filmemacher Lukas Dhont nach seinem Erfolg mit „Girl“ mit seinem zweiten Spielfilm „Close“, die Herzen zu berühren, geht es in dem Jugenddrama doch um nichts weniger als um Verlust, Tod, Trauer und Schuld – und darum, zu sich selbst und seinen Gefühlen zu stehen, unabhängig davon, was andere sagen. Einer der besten Filme der vergangenen Jahre.
Das Lehrerzimmer
Regie: İlker Çatak; Besuchszahlen: 259.908 – Platz 67
Deutschen Filmen haftet ja leider das Klischee an, dass sie entweder eine rührselige Komödie oder ein tristgrauer Krimi sind. „Das Lehrerzimmer“ ist da eine sehr angenehme Ausnahme, zumal er sich auch nicht mit dem drittliebsten Thema der Deutschen beschäftigt: dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl Krieg hier gar nicht der falscheste Gedanke ist, denn es geht um den „Krieg“ in unseren Klassen- und Lehrerzimmern. Und hier wie auf dem richtigen Schlachtfeld gilt: Der Krieg kennt keine Sieger:innen. Hoffen wir, dass das für den Film bei den Oscars 2024 anders läuft.
Sieben Winter in Teheran
Regie: Steffi Niederzoll; Besuchszahlen: –
Der Dokumentarfilm von Steffi Niederzoll lief im Herbst beim MOVE IT! Filmfestival und gewann dort den Human Rights Award – vollkommen zu Recht. Niederzoll arbeitet darin dokumentarisches Material über die junge Iranerin Reyhaneh Jabbari auf, die mit 19 Jahren im Rahmen einer versuchten Vergewaltigung ihren Peiniger ersticht und zum Tode verurteilt wird. Es beginnt ein Kampf um die Gerechtigkeit für Frauen im Iran, den sie mit dem Leben bezahlt. Doch ihre Stimme hallt durch Niederzoll nach.
Dogman
Regie: Luc Besson; Besuchszahlen: –
Mit schrillen Streifen wie „Das fünfte Element“ oder dem Kultfilm „Léon – Der Profi“ hat sich Luc Besson einen Namen gemacht und auch „Dogman“ passt sich nahtlos in das Œuvre des französischen Regisseurs ein. Dabei gelingt ihm neuerlich ein Fest großer Bilder und auch dieses Mal steht eine starke Figur im Mittelpunkt, nun in Form von Caleb Landry Jones, der dem namensgebenden „Dogman“ viel Tiefe gibt, ohne dabei rührselig zu wirken. Hinzu kommen süße Hunde jeglicher Couleur und natürlich auch die typische Action. Unterhaltung pur!
The Quiet Girl
Regie: Colm Bairéad; Besuchszahlen: –
Zuletzt sei ein Film empfohlen, der nicht nur einem ruhigen Mädchen viel Raum gibt, sondern auch der irischen Sprache ein kleines Denkmal setzt – einer Sprache, die schätzungsweise nur 70.000 Menschen täglich nutzen. „The Quiet Girl“ ist ein liebevoller Film, der wieder einmal zeigt, dass Familie nicht nur eine Sache der Genetik ist. Der Film ist sogar noch im Kino zu erleben, was man nutzen sollte, denn hier zählt jeder verstohlene Blick. (Nadine Faust)
Texte: Carl Lehmann und Nadine Faust
Foto: Amac Garbe