Die Preise der diesjährigen Ausgabe des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm sind vergeben, doch bis 30. Oktober könnt Ihr elf Filme noch online im Stream schauen. Wir verraten, was Euch erwartet.
Gespenstisch wirken die Fotografien von Jürgen Friedrich Mahrt. Der Landwirt in Norddeutschland hatte schon vor 120 Jahren angefangen, Schmetterlinge und andere Insekten zu sammeln, Vögel auszustopfen und das Leben sowie die Landschaft um ihn herum zu dokumentieren. Im Ersten Weltkrieg zum Fotografen ausgebildet, bildete er die Natur um ihn herum bald auf diese Weise ab und colorierte sie oft lebensecht von Hand. Entstanden ist ein riesiger Schatz, den er zu Lebenszeiten selbst als Museum zugänglich machte und der jetzt durch den Dokumentarfilm „Die toten Vögel sind oben“ seiner Urenkelin Sönje Storm neu erschlossen wird.
Die Natur vor 100 Jahren
Storm öffnet damit einen ganzen Kosmos an Geschichten: die familiäre Nicht-Kommunikation, Regionalgeschichte, Naturbeobachtung und Klimaschutz, politisches Weltgeschehen. All das zeigt sie in ihrem mit einer Goldenen Taube im Deutschen Wettbewerb ausgezeichneten Film an den Hinterlassenschaften ihres Urgroßvaters auf, der vor allem die Veränderungen in der umgebenden Landschaft dokumentierte und heute ausgestorbene Tiere für die Nachwelt konservierte. Auf Insekten können Forschende heute etwa Pollen finden und so untersuchen, welche Pflanzen die Tiere damals vorgefunden haben – und was heute fehlt.
Doch nicht nur deswegen wirken seine Fotografien gespenstisch. Mahrt hat seine ausgestopften Tiere nämlich gern in der Landschaft inszeniert und es ist oft nicht klar, ob er ein lebendes oder ein präpariertes Wesen abgebildet hat. Eine Spurensuche der anderen Art und gleichzeitig eine Mahnung an uns, dass das Leben in seinen vielfältigen Formen nicht ewig währt und es an uns ist, es nicht weiter aussterben zu lassen.
„Twin Peaks“ auf Russisch
Während der Gewinnerfilm der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb mit „Anhell69“ an eine Ko-Produktion aus Kolumbien, Rumänien, Frankreich und Deutschland ging, die das „zärtliche Porträt einer jungen, queeren Generation“ in Medellín zeichnet, ohne dabei dystopische Abgründe auszusparen, fiel unter den Mitbewerber:innen auch die französische Produktion „A Hawk as Big as a Horse“ auf. Im Zentrum steht eine Transgender-Ornithologin im russischen Schtscherbinka, die David Lynchs „Twin Peaks“ neu verfilmen will, Vögel erforscht und schließlich versucht, sich mit der Erschaffung einer „toten“ Silikonpuppe von ihren eigenen Träume zu verabschieden. So wird dem amerikanischen Kultkünstler nicht nur innerfilmisch ein Denkmal gesetzt, nein, der Film von Regisseurin Sasha Kulak wird quasi selbst zu einer Vision à la Lynch. Dafür gab es eine lobende Erwähnung im Internationalen Wettbewerb.
Queere Lebenswirklichkeiten spiegeln auch zwei Kurzfilme wider: „Will You Look at Me“ des chinesischen Regisseurs Shuli Huang sowie „Lada, Ivan’s Sister“ von Olesya Shchukina, eine russisch-französische Ko-Produktion. Ersterer erhielt die Goldene Taube für den besten internationalen Kurzfilm und zeigt in 20 Minuten eine Mutter-Sohn-Beziehung, die nicht nur unter den persönlichen Erwartungen der Mutter leidet, sondern gleich unter den Normen einer ganzen Gesellschaft – was sich ganz gut auf Olesya Shchukinas siebenminütigen Animationsfilm übertragen lässt, der auf Interviews mit einer Transgenderperson und deren Familie beruht. Dafür gab es die Silberne Taube im Wettbewerb um den Publikumspreis.
Ohnmacht an Europas Grenzen
Auch das Thema Flucht findet sich oft bei Dokumentarfilmfestivals wieder, wobei sich der 30-Minüter „Border Conversations“ von Jonathan Brunner auf eine andere Art annähert, denn er begleitet polnische Aktivistinnen einer NGO, die nur humanitäre Hilfe leisten können, wenn Flüchtende es bereits von Belarus nach Polen geschafft haben, denn ihnen selbst ist untersagt, das Grenzgebiet zu betreten. Ihre Machtlosigkeit zeigt sich in Chatverläufen mit Hilfesuchenden, wobei die Aktivistinnen irgendwann keine Antwort mehr bekommen. Dafür gab es die Silberne Taube im Deutschen Wettbewerb Kurzfilm.
Elf ausgezeichnete Film des diesjährigen DOK Leipzig sind bis zum 30. Oktober online im DOK Stream zu sehen, darunter fast alle hier vorgestellten Filme. Ein Ticket für einen Langfilm bzw. eine Kurzfilmrolle kostet fünf Euro.
Text: Nadine Faust
Foto: © DOK Leipzig 2022/Die toten Vögel sind oben, Sönje Storm