Es war ein gemütlicher Samstagnachmittag. Ich hatte meinen Partner durch die Läden der Neustadt geschleppt und versprach ihm im Gegenzug ein heißes Getränk in meinem Lieblingscafé. Bei Kuchen und Cappuccino versank ich in der teuren Modezeitschrift.
Ich blätterte mich durch Kleider vom Preis eines Kleinwagens, bis meine Aufmerksamkeit auf einen Artikel über CNM gelenkt wurde. Nein, das ist keine neue Selbstoptimierungs-Technik, sondern der Überbegriff „consensual non-monogamy“. Gemeint sind damit Beziehungskonstellationen, die sich für romantische und sexuelle Beziehungen öffnen, immer mit Zustimmung des Partners oder der Partnerin. Manchmal wird der Begriff synonym zur offenen Beziehung oder Polyamorie verwendet, andere Autor:innen grenzen beispielsweise die Polyamorie ab, weil es dort keine Primär-Beziehung gibt oder weil die Beziehungen zu mehreren Partner:innen emotional intim ist.
Vorurteile frei!
Als ich die Zeilen las, kam mir der Kaffee wieder hoch und ich ertappte mich, wie in mir eine ganze Liste an Aussagen vorbeiratterte. Kann die Frau nicht einfach ihre Beine zusammen und sich der Mann einen Knoten ins Gemächt machen? Sind die zu faul, um an der Beziehung zu arbeiten? Rumvögeln, weil’s in der Partnerschaft nicht läuft – eine ganz einfache Lösung! Wie kann man dem Partner oder der Partnerin nur so etwas antun? Oder haben sie einfach nicht den Mut, sich zu trennen?
Gleichzeitig spürte ich Respekt. Weil diese Konstellationen unerfüllte Bedürfnisse nicht hinnehmen, sondern darüber reden, dass eine Öffnung auch eine Lösung sein kann. Wie viel Arbeit ist nötig, damit das funktioniert? Wie toll muss jemand sein, der das anspricht? Wie toll muss jemand sein, der das aushält? Warum sind die Menschen in diesem Punkt so perfekt, während ich schon eifersüchtig werde, wenn mein Freund eine Frau länger anguckt?
Kleine Entwarnung: Menschen in einer offenen Beziehung sind keine Götter, sind nicht besser oder schlechter. Sie führen neben einer Haupt-Beziehung noch weitere in unterschiedlichen Formen. Von One-Night-Stand über Freundschaft mit Sex hin zu längeren Beziehungen ist vieles möglich. Und jede davon ist (im Idealfall) erfüllend, aber auch komplex.
Mono ist nicht einfach
Monogamie wird uns oft anerzogen, wird in den Medien vorgelebt und auch in meinem Kopf ist das drin. Es gibt viele Thesen dazu, wie es so weit kommen konnte. Neben Religion ist vor allem der Übergang von den Jäger:innen und Sammler:innen zur Sesshaftigkeit und Feldarbeit dafür verantwortlich. Weil Frauen körperlich (meist) im Nachteil waren, sich auf den Haushalt und die Kinder fokussierten und zum begehrten Gut wurden, das man beschützen musste. Denn wir brauchen neun Monate, bis wir die Menschheit quantitativ voranbringen.
Es gibt aber auch soziale Gemeinschaften, in denen nicht-monogame Konstellationen auf verschiedene Arten verbreitet und sogar von Vorteil sind, z. B. bei manchen Urvölkern Afrikas oder einigen religiösen Gemeinschaften.
Nicht allein sein
Es ist aber nicht nur eine Frage der Erziehung. Es ist vor allem die Angst, verlassen zu werden. Das Gefühl, nicht genug geliebt zu werden. Alleine klarkommen zu müssen. Nicht wertvoll genug zu sein. Ich glaube, das ist normal. Wahrscheinlich bedeutet eine soziale Bindung – auch zu Freund:innen –, dass man sich vertraut, nicht verlassen zu werden. Nur das führt dazu, dass man sich fallen lassen und ein Stück von sich selbst offenbaren kann. Dass man sich austauschen kann.
Der Irrtum liegt darin, dass Liebe und Vertrauen begrenzte Güter sind, die weniger werden, wenn man sie unter mehreren Menschen aufteilt. Aber sie sind qualitativ – sie werden größer, wenn Grenzen respektiert oder im positiven Sinne erweitert werden. Und sie werden kleiner, wenn Grenzen verletzt werden. Ein:e Partner:in mehr bedeutet nicht, dass die Liebe zum anderen oder zur anderen kleiner wird. Ganz im Gegenteil: Durch die Auseinandersetzung damit kann die Beziehung sogar tiefer werden.
Außerdem gibt es verschiedene Arten, jemanden zu lieben – daher spricht man vermehrt von romantischen und sexuellen Beziehungen. Eine tiefe platonische Beziehung kann genauso viel Aufmerksamkeit beanspruchen wie eine oberflächliche körperliche. Menschen sind unterschiedlich, daher gibt es auch viele Dinge, die man begehren kann. Ein:e Partner:in ist ungebunden und man kann mit ihm oder ihr gut Abenteuer erleben. Ein:e andere:r mag Kunstausstellungen. Und ein:e dritte:r weiß seine oder ihre Hände gut an Körperstellen einzusetzen. Liebe hat einfach sehr, sehr viele Gesichter.
Abwägen der Bedürfnisse
Der Grund, warum Menschen offene Beziehungen eingehen, sind oft Bedürfnisse, die innerhalb der bestehenden Beziehung nicht erfüllt werden können. Der Klassiker ist, dass ein:e Partner:in viel körperliche Zuwendung will, der oder die andere aber nur wenig geben möchte. Die Grenzen beider müssen gewahrt werden – der oder die eine sollte sich nicht zu Sex zwingen müssen, der oder die andere nicht das Gefühl haben zurückzustehen. Man kann darüber reden, dieses Begehrt-Werden anders umzusetzen, aber manchmal kommt man an einen Punkt, an dem es nicht weitergeht. Man könnte das aushalten, abwarten, sich damit abfinden. Aber ein kleines Steinchen im Getriebe kann langfristige Folgen haben.
Sehr erhellend bei meiner Recherche war für mich eine Folge des ZEIT-Podcasts „Ist das normal?“ zum Thema Polyamorie. Dort wird erklärt, dass eine offene Konstellation auch entlastend sein kann. Denn nicht nur der oder die Partner:in, dessen oder deren Bedürfnis untererfüllt ist, fühlt sich schlecht. Sondern auch der oder die andere, der oder die das nicht leisten kann. Steter Tropfen höhlt den Stein, und es kann frustrierend sein, über ein Problem zu reden, ohne eine Lösung zu finden. Eine Öffnung kann atmen lassen, weil man sich um einen Punkt erst mal nicht mehr kümmern muss – man delegiert das an eine:n andere:n Partner:in.
Noch ein paar Folgen
Eine Öffnung kann positive Folgen für die Beziehung haben, weil man sich auf die Dinge fokussieren kann, die die Beziehung ausmachen. Abends einen Film gucken, ohne später noch im Bett zur Sache zu kommen. Stattdessen einfach bis in die Nacht gucken. Sich nicht auf eine Ausstellungseröffnung quälen, weil der Partner oder die Partnerin das gerne macht, sondern zuhause ein Bild malen und wissen, dass der oder die andere trotzdem eine:n Partner:in zum Spaßhaben hat.
Es gibt Autor:innen, die so weit gehen, dass gesunde Paarbeziehungen alle Bereiche des Lebens durchdringen, uns zufriedener, kreativer machen. Und dass Monotonie in einer Beziehung umgekehrt dazu beiträgt, dass man sich schlecht und ausgelaugt fühlt. Körperlich oder emotional begehrt zu werden, das ist mehr als Trieb und Egoismus. Es ist eine Form der Bestätigung durch andere, die manchmal notwendig ist. Die in manchen Paarbeziehungen aber vom Alltag aufgefressen wird. Ein:e weitere:r Partner:in kann die Stimmung verbessern und neuen Input geben.
Ich vermute, dass eine Öffnung auch die Bestandteile der Beziehung hinterfragt und neu ordnet. Was mag ich an anderen? Kann das auch der oder die Partner:in erfüllen? Was funktioniert bei uns gut? Was habe ich bisher an meinem oder meiner Partner:in vermisst? Plötzlich sieht man Dinge, für die man vorher betriebsblind war, z. B. wie toll jemand aussehen kann, wenn er oder sie morgens nur mit einer Küchenschürze bekleidet Rührei macht. Vielleicht ändert sich auch der oder die primäre Partner:in, weil wieder mehr Raum für Entfaltung ist. Oder weil der oder die andere neue Gedanken einbringt.
Und letztlich kann man auch Vertrauen aufbauen, weil man diesen steinigen Weg gemeinsam geht. Und sich trotzdem bewusst ist, dass die Beziehung an erster Stelle kommt.
Kein Hexen-, sondern Regelwerk
Damit eine offene Beziehung funktionieren kann, braucht es: reden. Vor allem am Anfang viel Auseinandersetzung mit sich selbst und dem oder der Partner:in. Dem Partner oder der Partnerin ein Abschiedsküsschen geben und dann den Rest der Nacht tanzend und fickend verbringen, um am nächsten Morgen gewohnt zum Frühstück zu erscheinen und im Detail zu erzählen, was man getrieben hat – keine gute Vorstellung.
Nur, weil man etwas als „offen“ deklariert, heißt das nicht, dass man jederzeit glücklich damit ist. Ein:e Partner:in kann eifersüchtig sein, der oder die andere fühlt sich schuldig. Man muss sich einleben, erst einmal spüren, dass die Beziehung nicht kaputtgeht, wenn man mit anderen schläft oder Zeit verbringt. Katja Lewina fasst das in ihrer Kolumne „Freifahrtschein“ so zusammen: „Eine offene Beziehung bedeutet in erster Linie ein Mehr, nicht ein Weniger für alle.“ Vielen Menschen helfen dabei Regeln. Z.B. dass man nicht bei anderen Partner:innen übernachtet. Wie viel man am nächsten Tag erzählt. Oder wann man nach Hause kommt. Und was passiert, wenn man sich in die dritte Partei verliebt.
Ideeller Überbau
Eine offene Beziehung bedeutet, dass man die Verantwortung für seine Bedürfnisse ein Stück aufteilt. Man macht das nicht mit sich allein aus, sondern bindet den oder die Partner:in aktiv ein. Damit, den oder die andere:n erst mal zu verletzen, muss man klarkommen. Eine offene Beziehung kann Freiheit bedeuten, wenn man sich bewusst ist, dass die Primär-Beziehung als Konstante erhalten bleibt – die man jedoch genauso pflegen möchte.
Freiheit ist das Stichwort – man gesteht dem oder der anderen zu, Sexualität und emotionale Bindungen nicht in einer einzigen Beziehung ausleben zu müssen, sondern auszuschwärmen, wenn er oder sie das möchte. Es ist kein Verlust von Kontrolle über die Bindung, sondern ein Gewinn an Respekt und Vertrauen.
Übrigens hat Lewina im gleichen Text einen Gedanken aufgeworfen, der dem Thema das Aufregende nimmt und auf den Boden der Tatsachen zurückführt: eine Prioritäten-Liste. Zuerst die Familie bzw. die Kinder und der oder die Partner:in, dann die Arbeit und erst danach Freizeit und weitere Partner:innen.
Nicht ganz so schwer – Affäre?
All das klingt theoretisch und nach vielen, vielen Gesprächen. Wer hat denn neben Kindern, Haushalt, Job und Freizeit überhaupt Zeit dafür? Sind offene Beziehungen nicht einfach ein Trend für die Generation X, die sich nicht für eine Sache entscheiden will? Eine Phase, die man mit 30 durchmacht, bis man den Wert von Sicherheit und Familie erkannt hat?
Und überhaupt: Warum sich den Stress antun, wenn’s die gute alte Affäre auch tut? Generationen von Frauen haben ertragen, wenn der Mann mit dem falschen Lippenstift nach Hause gekommen ist. Wenn man sie gut plant, kann eine Affäre (vermeintlich) lange unentdeckt bleiben. Man gibt sich dem Reiz des Verbotenen hin, kann andere Seiten ausleben und hat das Gefühl, man würde dieses schöne Geheimnis für sich allein haben.
Aber warum traut man seinem oder seiner Partner:in nicht zu, dass er oder sie mit diesen Bedürfnissen umgehen kann? Warum entscheidet man für andere, was das Beste ist, anstatt die eigenen Wünsche zu äußern und gemeinsam daran zu arbeiten? So betrachtet ist ein Betrug vor allem eine Bevormundung des Gegenübers. Eine offene Beziehung tut das Gegenteil – sie bezieht es mit ein.
Auseinanderdividiert und zusammengerechnet
Obwohl ich viel gelesen und gedacht habe, ist eine offene Beziehung oder „consensual non-monogamy“ für mich schwer vorstellbar. Ich mag den Gedanken der Freiheit und das Gefühl, meine Bedürfnisse nicht mit jemandem abstimmen zu müssen. Es bedeutet aber auch mehr Arbeit – an der eigenen Beziehung und den Beziehungen zu dritten. Man braucht eine:n Partner:in, der oder die das trägt, und man muss selbst ehrlich genug zu sich sein, um das zu bewältigen. In den Texten zahlreicher Vertreter:innen wirkt das machbar, aber ich glaube nicht, dass ich die Kraft hätte, so viel Verantwortung zu tragen. Ich bewundere aber Menschen, die damit so offen umgehen.
Und natürlich fehlt auch eines: Vorbilder. Menschen, die zeigen, dass eine solche Beziehung mach- und gut integrierbar in den Alltag ist. Dass sie ein Puzzleteilchen unserer Welt ist, aber nicht den Charakter eines Menschen dominiert.
Text: Vivian Herzog
Foto: Amac Garbe