Dort draußen geht etwas umher, etwas Unheilvolles. Die Menschen nehmen davon keine Notiz, wohl aber die Tiere. Aus der Egoperspektive stampfen wir mit dem Fremden durch einen Sturm im isländischen Niemandsland. Es, und mit ihm auch das Publikum, schreckt Pferde auf, dringt in eine Farm ein, versetzt die Schafe in Panik. Wir werden schließlich aus dem Blick der Kamera erlöst und müssen so nicht direkte Zeugen des Aktes werden, der ein Schaf schwanger zurücklässt.
So gestaltet sich der stimmungsvolle Beginn von Valdimar Jóhannssons Langfilmdebüt „Lamb“. Erst jetzt treten die menschlichen Protagonisten in die Handlung ein. Maria und Ingvar widmen ihr Leben der Arbeit auf der Farm und scheinen in der Isolation zurechtzukommen, doch glücklich wirken sie nicht. Der Alltag besteht aus stoischer Schufterei und wenig Gesprächen. Das ändert sich mit der Geburt des Lamms – oder des Wesens, welches den Kopf eines Lamms und den Körper eines Menschen besitzt. Der zu erwartende Schock hält sich bei den beiden sehr in Grenzen, schnell zeigt sich sogar aufkeimende Freude. Sie nehmen das Neugeborene auf und kompensieren damit einen schmerzhaften Verlust. Das Familienglück wird jedoch mit der Ankunft von Ingvars Bruder Pétur bedroht, denn dieser sieht nur eine morbide Grenzüberschreitung, die er deutlich anklagt.
Grenzübertretungen sind das Kernthema des Films. Zunächst ist das Werk selbst ein Genre-Hybrid, in dem ein Familiendrama, bestimmt durch die typische Lakonie und Trostlosigkeit des Nordic Noir, mit Versatzstücken aus Horror und Mystery angereichert wird.
„Lamb“ lässt sich nicht bequem in Schubladen stecken, der ständige Bruch mit Erwartungen fordert das Publikum zum aktiven Sehen auf, was zunächst ein Gewinn ist. Leider steht der Film aber auch spürbar zwischen den Stühlen und vermag keinen seiner Charakterzüge auszuschöpfen. Weder handelt es sich um einen Gruselfilm, denn die schaurige Atmosphäre des Beginns verliert sich unmittelbar mit der Geburt des Lamms, da es mit der sofortigen Adoption durch das Paar auch in die Sphäre des Gewöhnlichen übernommen wird – es heißt nun übrigens Ada. Noch sehen wir ein tiefgehendes Beziehungsdrama. Maria, Ingvar und Ada treten oftmals hinter den Panoramaeinstellungen der isländischen Wildnis zurück, wir erfahren nicht sonderlich viel von den Familienmitgliedern.
Handwerklich orientiert sich der Film an dem Slow Cinema, dessen Großmeister Béla Tarr („Das Turiner Pferd“, „Sátántangó“) ausführender Produzent von „Lamb“ ist. Lange, oft unbewegte Bilder, die nur höchstens rudimentäre Handlungen einfangen, benötigen die visuelle Kraft und geschickte Komposition, um den Rückzug des Narrativs zu ersetzen und den Film zu tragen. Über die Frage, ob dies „Lamb“ gelungen ist, wird sich das Publikum wohl spalten. Die 106 Minuten fühlen sich mitunter ziemlich lang an, trotz der kargen Berge und des Nebels verlieren diese Aufnahmen mit der Zeit an bedrohlicher Unwirklichkeit und wirken zunehmend wie eine urige Naturdoku.
Andererseits trägt die Ästhetik zum tieferen Verständnis des Films bei, denn auch hier kehrt das Thema des Hybriden wieder. Zwei Welten prallen aufeinander und wollen nicht so recht ineinandergreifen. Wie ein Fremdkörper rattert der Traktor der Zivilisation durch die wilde Einöde. Völlig verloren, fast verschwindend klein stehen Maria und Ingvar inmitten des schroffen Lands. Und doch beherrschen sie es.
Jóhannsson erzählt von nichts geringerem als dem Widerstreit zwischen Mensch und Natur. Dabei verweigert er uns, Sympathien für die Protagonisten aufzubauen, treten sie doch wie Kolonisten im negativsten Sinne auf. Sie adoptieren nicht das Lamm, sie rauben es. Das Muttertier will es zurück und reagiert mit penetranter Aufdringlichkeit. Dies wiederum lässt die sonst so sanfte Maria mehr und mehr in herrischer Verrohung kippen. Dieses Duell zweier Mütter ist eine schauspielerische Herausforderung, welche Noomi Rapace mit Bravour meistert. Nicht viele können ein Schaf mit „Hau ab“ anbrüllen, ohne dabei ins unfreiwillig Komische abzurutschen. Ebenso beeindruckend mimt sie ihre fürsorgliche Liebe für das Lamm, die in entscheidenden Nuancen auch die neurotische Angst vor einem erneuten Verlust erkennen lässt. Förderlich ist dabei die herausragende Machart des Wesens, woran Jóhannssons berufliche Herkunft aus den Special-Effects-Teams großer Blockbuster erkenntlich wird. Die CGI-Effekte verleihen Ada eine vielfältige und verblüffend real anmutende Mimik und Gestik und tragen erheblich zur ernüchternden Botschaft des Films bei. Denn obwohl Ada ein sichtbar fühlendes, vor allem intelligentes Wesen ist, schert sich niemand wirklich um dessen Perspektive.
So gelangen wir zum dritten, offensichtlichsten Aspekt der Grenzgänger-Thematik. Ada ist ein Mensch-Tier-Hybrid und steht zwischen der Natur und der Zivilisation. Doch sie vermag in keinster Weise zwischen den beiden Welten zu vermitteln, ganz im Gegenteil: Sie wird hin- und hergerissen. Die Vertreter beider Domänen wollen es lieben, besitzen und großziehen und somit die Deutungs- und Gestaltungshoheit über die Zukunft erlangen.
Es sind also gewaltige Themen, die in einem sonderbaren, eigenwilligen Film verarbeitet werden. So manchen vermag er mit seiner verschleppten Erzählweise, überbordenden Landschaftsaufnahmen und vielen nicht eingelösten Versprechungen von dem großen Horror oder Drama unbefriedigt zurücklassen. Doch das Werk lässt einen nicht ziehen. Es setzt sich fest, lässt noch lange grübeln und angesichts der aktuellen globalen Herausforderung hat er uns damit gewiss einen wichtigen Dienst erwiesen.
Text: Alexander Stark
Foto: Ein Blick sagt mehr als tausend Worte: Hinter Marias (Noomi Rapace) traurigen Augen verstecken sich viele Geheimnisse. © Koch Films